Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
brachte Sitzgelegenheiten, wir reihten uns zu einem Halbkreis. Meine Wiener Anzüge passten mir noch vorzüglich, ich trug den hellen, dazu schwarze Lackschuhe, burgunderrote Socken, ein Wams in der gleichen Farbe und eine jadegrüne Krawatte. Wieder blickte ich ins Auditorium und ließ die Zuhörer warten. Es wurde ruhig und unruhig und wieder ruhig, unruhig und wieder ruhig und still wie unter der Erde.
Und nun sagte ich den einzigen Satz der gesamten Vorlesungsreihe, der nicht in Frageform gehalten war:
»Jeder – Mensch – ist – ein – Philosoph.«
Tosender Applaus. Der tatsächlich erst endete, als ich meine Arme ausbreitete.
Nun stellte ich meine erste Frage an die acht Studenten und Studentinnen, die mit mir auf dem Podium saßen: »Was ist das Äußerste?«
Und los ging die Diskussion!
Von Termin zu Termin überließ ich es einem anderen Zufall, welche Studenten auf dem Podium sitzen und mit mir – also zu meinen Fragen – diskutieren durften. Zum Beispiel: alle Studenten, deren Matrikelnummer mit einer 8 endete, oder: alle Studenten, die zwei jüngere Geschwister hatten, oder: alle, denen im vorangegangenen halben Jahr ein Antibiotikum verschrieben worden war, und so weiter. Als mir nichts mehr einfiel, fragte ich das Plenum nach Auswahlkriterien. Daraus ergaben sich die heitersten halben Stunden, die das ehrwürdige Audimax erlebt hatte, hierin waren sich alle einig.
Schon vor der ersten Veranstaltung des Kolloquiums hatte ich eine Arbeitsgruppe zusammengestellt, bestehend aus Studenten höherer Semester, die Protokoll führen sollten. Eine weitere Arbeitsgruppe formte über die Ferien aus den mitgeschriebenen Diskussionsbeiträgen ein Buch. Das Buch wurde unter meinem Namen dem Verlag Wissen und Volk vorgelegt. In einem Vorwort wies Prof. Lenz darauf hin, dass die Publikation im Kollektiv, also auf bewährt sozialistische Art und Weise, aber unter meiner Leitung entstanden sei. Das Buch trug den Titel: Was ist das Äußerste? Keine Publikation des, zugegeben kleinen, Wissenschaftsverlags hatte sich je besser verkauft.
Nach einem Jahr bereits war ich der bekannteste, beliebteste und meistdiskutierte Professor der Humboldt-Universität zu Berlin.
3
»Die Wirklichkeit ist ein endloses Gewebe von Sinnhaftem und Sinnfremdem. Ersteres adeln wir mit dem einsamen Begriff Wahrheit, für letzteres haben wir unzählige Worte zur Verfügung.« – Ich weiß nicht, wer das geschrieben hat. Als ich in der theologischen Bibliothek nach Meister Eckhart suchte, zog ich irgendein Buch aus dem Regal, schlug es auf und las diesen Satz. Ich schrieb ihn mit Bleistift auf die Rückseite meines Schonkostausweises für die Mensa und übertrug ihn zu Hause auf die Titelseite der Predigten . Und lernte ihn auswendig.
Den zweiten Satz – »Alles, was Erinnerung ist, gerät unter das Regime der narrativen Transformation« – habe ich mir auf ähnliche Weise angeeignet.
Wie am Ende des ersten Kapitels angedeutet, habe ich mit diesen beiden Zitaten ordentlich Eindruck geschunden. Zuvorderst bei Kurt Hager, dem Chefideologen der SED und maßgeblichen Kulturpolitiker unserer Republik. Ein zynischer Emporkömmling war der. Einer von der knieschlotternden Sorte. Einer von denen, die überall hinaufklettern, aber sich unter dem Gipfel ins Biwak verkriechen. Weil an der Spitze oben der Charakter sichtbar würde. Vorausgesetzt, man hat einen. Einen guten oder einen schlechten. Wenn man keinen Charakter hat, weder einen guten noch einen schlechten, würde natürlich nichts sichtbar werden. Aber das wäre auch etwas. – Wie Sie richtig vermuten, handelt es sich bei dieser Wertung nicht um mein Urteil. Ich urteile über Menschen nicht.
Erich Honecker hat das über Kurt Hager gesagt. Zu mir hat er es gesagt. Das war bei meinem zweiten Besuch in Wandlitz im Bungalow des Staatsratsvorsitzenden und der Ministerin gewesen. Die Einladung war für einen Sonntagnachmittag im Mai ausgesprochen worden, zwölf Leute (mich nicht mitgerechnet) waren gekommen, herrlichster Sonnenschein, windstill, günstigste Bedingungen für ein kleines Federballturnier, wir standen oder saßen im Garten und haben Thüringer Bratwürste über glühenden Kiefernzapfen brutzeln lassen und Bier aus der Diamant Brauerei Magdeburg getrunken. Kurt Hager, der – wie ich – eine Professur an der Humboldt-Universität innehatte, aber längst keine Vorlesungen mehr hielt (»Worüber auch, bitte!« – Margot Honecker), habe, wie mir Erich Honecker
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