Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
war erregend. Man sollte so etwas nicht aussprechen, das brauchen Sie mir nicht zu sagen, das weiß ich selbst. Das lässt einen Mann schlecht dastehen. Ich halte schon deshalb von der Wahrheit nicht allzu viel, weil sie einen in den meisten Fällen schlecht dastehen lässt. Ich sagte zu ihr, sie sei mir die Liebste. Wenn ich neben ihr lag, war es keine Lüge. Wenn ich neben ihr lag, im Bett ihrer besten Freundin, die uns ihre Wohnung an zwei Nachmittagen in der Woche für ein Viertel Kilo Jacobs Kaffee aus dem Intershop zur Verfügung stellte, wenn vor dem Fenster die Amseln sangen und in den Rohrleitungen das Wasser gurgelte, wenn sie den Kopf in meine Achselhöhle drückte oder ich meinen in ihre und über uns Kinder hüpften, so dass die Lampe wackelte, und unter uns ein Radio spielte, dann wurde ich ruhig, sehr ruhig, atmete ruhig ein und aus, meine Kiefer lösten sich voneinander, und Ruth wurde auch ruhig, sie atmete ruhig ein und aus, und uns scherte nicht, ob Monsieur Nguyen oder ein anderer Führungsoffizier seine Spione ausgesandt hatte, um unsere Gespräche und unsere Liebesgeräusche aufzunehmen mit dem Befehl, die Bänder an die Advocata für ihr Archiv weiterzuleiten, das große Archiv der menschlichen Regungen und ihrer Erscheinungsformen.
Ruth sagte, sie lebe im falschen Leben. Alles um sie herum sei falsch. Sie wusste, auf welche Weise ich Professor und Leiter meines Instituts geworden war, und sie wusste, dass auch aus der DDR nie etwas Richtiges werden würde, etwas, das einer umwerfend schönen Dreißigjährigen ein umwerfend schönes Leben bieten könnte. Als Tochter der Büroleiterin des Politbüros der SED hatte sie, was die wirtschaftliche Situation unseres Landes betraf, keine Illusionen. Das erste, was sie sagte, als bekannt wurde, dass Franz Josef Strauß die Milliarde Westmark für uns aufgetrieben hatte, war: »Das wird nicht reichen.« Und damit hatte sie recht. Ein Jahr später folgte die zweite Milliarde. Wie heute jeder weiß, hat auch die nicht gereicht. Ruth wusste es damals schon.
Die Beziehung zu Ruth Ernst dauerte ein bisschen länger als zwei Jahre.
Elsbeth und die kleine Helena bewohnten nette drei Zimmer, zehn Gehminuten von meinem ehelichen Zuhause entfernt. Die Miete war so gering, dass Elsbeth meinte, es rentiere sich nicht, wenn ich mich daran beteiligte. Ich konterte mit den gleichen Worten, schließlich betrug mein Universitätsprofessorensalär das Dreifache ihres Gehalts. Montag, Mittwoch und Freitag brachte ich Helena zu Bett – nachdem wir miteinander zu Abend gegessen hatten, Vater, Mutter und Kind. Meistens blieb ich bis zum Morgen. Manchmal übernachtete ich im Institut in meinem Büro auf dem Sofa. Elsbeth verstand, dass ich hin und wieder allein sein wollte. Lenchen schlief bei offener Tür, weil sie Mama und Papa gern reden hörte. Wir beide hatten interessante Gespräche. Das sage ich, obwohl ich mich nicht an ein einziges erinnere. Es war einerlei, worüber wir sprachen, es war angenehm, dass wir miteinander sprachen. Eines der drei Zimmer war eine geräumige Wohnküche, in der eine gepolsterte Liege stand. Wir unterhielten uns, erzählten von unserem Tag, klammerten aus, was uns traurig oder ärgerlich stimmen könnte; zogen uns aus, legten die Kleider sorgfältig über die Stuhllehne, krochen in Unterhemd und Unterhose unter eine Plüschdecke mit Leopardenmuster, schalteten den Fernseher ein, schliefen miteinander, ohne unsere Unterhaltung groß zu unterbrechen oder den Blick länger vom Bildschirm abzuwenden. Elsbeth duschte ausgiebig und ließ sich dabei von mir abreiben. Sie verriet mir, dass sie inzwischen Hunde nicht mehr leiden könne. Die Hunde würden das merken und seien darüber verzweifelt. Verzweifelte Tiere seien gefährlich. Sie wolle sich versetzen lassen, sagte sie, ob ich ihr dabei helfen könne. Ich sagte, ich würde mit Honecker persönlich sprechen, wenn sie nichts dagegen habe, er liebe solche kleinen Dinge, er sei ein rundum liebenswürdiger Mann, so hätte ich ihn kennen gelernt, sein Traum sei es, das Kleine zum Großen zu erheben, das Land nicht weniger gemütlich zu gestalten als eine Wohnküche mit Fernseher und Leopardendecke.
Als Lenchen etwas älter war, spielten wir zu dritt Mensch-ärgere-dich-nicht. Sie war ein vifes Mädchen, das sich jeden Tag darauf freute, mir am Abend zu irgendeiner Sache die Meinung zu sagen. Dabei verschob sie ihr Mündchen in die rechte Backe und hielt das Köpfchen schief.
Ich war
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