Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
spar du dir deine Nachsicht für die Vollkommenen auf.«
     
    Es fällt mir leicht, mich in den zurückzuversetzen, der ich einmal war. Ich bin mir nicht fremd, ich war mir nie fremd, alle Stationen meines Ichs sind mir gegenwärtig, ich treffe nie einen anderen an als den, der ich immer noch bin. Ich weiß heute mehr als vor dreiundfünfzig Jahren; aber ich bin nicht ein anderer. Eine Entwicklung fand bei mir nicht statt. Ich habe mich nie über mich selbst gewundert, ich bin nie an mir selbst verzweifelt. Ich habe meine Person eben nie einem anderen geliehen und bestimmt nicht ausgeliefert, weswegen ich auch nie in die Verlegenheit geriet, sie als eine veränderte zurückzunehmen. In solchem Leichtsinn liegt die Ursache für den Mangel an Selbstvertrauen bei Erwachsenen. Diese Elenden reden sich ein, sie seien als Kind nicht zur Reflexion fähig gewesen – man habe mit ihnen »machen« können. Mag sein, dass meine Reflexionen intuitiver Natur waren, weil ich die Worte dafür nicht kannte; zugleich aber waren sie durch die Worte nicht eingeschränkt. Ein Wort fasst ein unüberschaubares Feld an Nuancen zusammen, gibt Gelb und Blau im Begriff »Blumenwiese« als eines aus, sagt schlicht »Melancholie«, wo sich der so benannte Zustand bekanntlich bei jeder Person anders und in jedem Moment verschieden äußert. Ich habe mich nie an meinen Mitmenschen gemessen. Das gab mir die Freiheit, sie zu beobachten und mir meine Gedanken über sie zurechtzulegen – und zu archivieren. Ja, ich verfügte als Kind über das Reflexionsvermögen eines Erwachsenen; ich meine, es gibt nur wenige Erwachsene, die es darin mit dem Siebenjährigen aufnehmen können.
    Sebastian Lukasser ist Schriftsteller und in den Gedanken vernarrt, Märchen und Mythen bildeten einen Katalog aus Präzedenzfällen, und er fand meinen Fall ausgerechnet in der Figur des Siegfried von Xanten gespiegelt. Wie Siegfrieds Körper durch das Bad im Blut des Drachen unverwundbar wurde, so sei meine Seele in jenen fünf Tagen und vier Nächten gestählt und immunisiert worden.
    »Vielleicht bin ich einfach nur ein Monster«, antwortete ich ihm.
    Er liebt mich zu sehr, um dem nicht zu widersprechen.
     

2
     
    Wir breiteten unsere Decken zwischen den kegelförmig gestutzten Thujen aus und aßen Wurstbrote und Mannerschnitten und tranken Coca-Cola (was das Beste war, was ich je getrunken hatte, und das Interessanteste, denn es schmeckte in der Mitte der Zunge ein wenig anders als an ihren Rändern). Es war später Nachmittag. Wir saßen zwischen den Museen im langen Schatten der Kaiserin, und um uns herum jubilierten die Amseln. Moma sagte, sie wolle sich nach dem Essen zusammen mit mir zu einer Polizeistation begeben und um politisches Asyl ansuchen. Opa fand das keine überragende Idee. Mein Vater ebenfalls nicht. Ich kann mich an ihre Argumente nicht mehr erinnern. Ich nehme an, mein Großvater hatte Angst, dem Antrag werde nicht stattgegeben und wir würden zurückgeschickt. Er sagte, in diesem Fall würde er sich das Leben nehmen. Mein Vater wollte ohne Not nicht von einer Behörde registriert werden.
    »Wie würdest du dir das Leben nehmen?«, fragte mein Vater.
    Meine Mutter fuhr ihn an, sie finde diese Frage wohl das Geschmackloseste, was sie je gehört habe.
    Opa widersprach ihr: »Aber warum denn? Er meint es doch in einem medizinischen Sinn. Hab ich recht, Mischa?«
    Mein Vater sah ihn an. Er nickte nicht. Er schüttelte nicht den Kopf.
    Bis es dunkel wurde, unterhielten wir uns über verschiedene Arten, sich selbst zu töten. Auch Mama beteiligte sich schließlich an dem Gespräch, und sie fand es nicht mehr geschmacklos. Ich lag mit meinem Kopf in ihrem Schoß, sie knapste mit den Fingernägeln in meinen Haaren herum, als würde sie nach Läusen suchen. (Das habe ich immer gemocht, und später habe ich mich bei meinen Geliebten daran erinnert, die meisten fanden es lustig, alle fanden es zärtlich.)
    »Die Frage ist«, sagte Opa, »wie kann man es tun, wenn man in einer Zelle sitzt, womöglich in Handschellen, in der Tür ein Guckloch, durch das du Tag und Nacht beobachtet wirst – wie kann man es in einer solchen Situation tun?«
    »Ich würde aufspringen und so schnell ich kann mit dem Kopf gegen die Mauer rennen«, sagte meine Mutter.
    »Die Mauer ist höchstens zwei Meter von dir entfernt«, entgegnete Opa. »Du kriegst nicht genügend Geschwindigkeit, du kriegst nur Kopfweh.«
    »Nichts essen«, schlug meine Mutter weiter vor. Ich fand das

Weitere Kostenlose Bücher