Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
von ihm haben, wollte seine Erzählung und die Bewegungen seiner Zunge nachkochen. Genau so sagte ich es zu ihm. Er lächelte und sah an mir vorbei, als ob er inzwischen schon an etwas anderes dächte. Er gab mir Geld, sagte, ich solle mich beeilen, lange würden die anderen nicht mehr schlafen, und ich lief zur Hietzinger Hauptstraße und wartete vor dem Fleischhauer Alois Einberger, bis er öffnete. Papa zeigte mir, wie man Kartoffeln schält und zu feinen Plättchen hobelt, wie man Zwiebeln schneidet und anbrät und wie man Eier aufschlägt. Er saß am Tisch, in Herrn Dr. Martins Morgenmantel gehüllt – kein Tag, an dem er nicht fragte, ob er ihn benützen dürfe –, und sah mir zu oder sah an mir vorbei. Wir aßen schnell, die Kartoffeln waren nicht durch, der Speck war verbrannt, das Eiweiß flüssig. Die anderen wachten durch den Geruch auf, wollten auch haben, aber alles war weggeputzt.
Nur selten verließen wir die Wohnung in diesen eineinhalb Wochen, während Opa im Krankenhaus war. Gott, diese Küche, mein Gott! Als wären unsichtbare Drähte kreuz und quer durch den Zigarettenrauch verspannt und die wären angeschlossen an den Strom, und wer sie berührte, würde aufgeladen von Momas Geilheit. Sie gab sich keine Mühe, diese vor uns zu verbergen. Sie schob unter dem Tisch Herrn Dr. Martin die Hand in die Hose. Ich konnte es sehen, Mama konnte es sehen, Papa konnte es sehen. Ihre Stimme war atemlos – die zweite Plage. Ich habe meine Moma immer gern angesehen, und oft habe ich sie angesehen, allein um mich an ihrem Anblick zu freuen; aber in der Báthory utca war sie ein Teil von mir gewesen, und nun war sie das nicht mehr. Nun sah ich, wie schön sie wirklich und für alle Welt war, und sah, dass sie bald gestürzt würde.
Hin und wieder unterbrach Herr Dr. Martin sein Schweigen, hob sein Haupt (was aber niemanden daran erinnerte, dass es immer noch seine Küche war, in der wir saßen, aßen, tranken, rauchten, diskutierten, stritten und schliefen) – »Also, ich will euch etwas erzählen, ich will euch jetzt etwas erzählen …« – und marschierte ungeniert durch unser Geplapper hindurch und hinein in sein altägyptisches Labyrinth und verhedderte sich bereits bei der ersten Gabelung, was seinen Redefluss aber nicht hemmte: die dritte Plage. Immerhin erfuhr ich bei diesen Gelegenheiten (und behielt es fürs ganze Leben) von Nun und Naunet, Huh und Hauhet, Kuk und Kauket, Amun und Amaunet, von Re, Horus, Atum, Schu, Tefnut, Geb, Nut, Osiris, Isis, Seth, Nephthys, Thot, Anubis. Aber anders als bei den Geschichten aus der Gesta Hungarorum des Anonymus – wenn der Großwesir im Auftrag des Kalifen sie erzählte! –, gelang es mir nicht, einen narrativen Zusammenhang zwischen diesen Namen herzustellen. Herrn Dr. Martins Ausführungen wiesen nicht eine Spur von Dramaturgie auf, sie zielten auf kein Ende, kannten weder Motiv noch Spannung. In geistesabwesender Vorsicht ergriff er ein Ding nach dem anderen, das auf dem Tisch stand, hob es hoch und setzte es wieder ab. Momas Gesicht hatte einen erschöpften Ausdruck von Geduld.
Nein, Herr Dr. Martin besaß keinerlei erzählerisches Talent. Er kapierte einfach nicht, was bei einer Handlung geschah. Er konnte nicht zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem unterscheiden. Er verlor sich bei der Beschreibung der Arm- und Beinbänder des Anubis, hielt es aber nicht für notwendig, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob derselbe der Sohn des Re oder des Seth war. Ich als Anubis hätte das auf alle Fälle wissen wollen, immerhin hat einer von beiden seinen eigenen Bruder zerstückelt und die Brocken über Äcker, Straßen, Wälder und Städte verteilt. Herr Dr. Martin sprach vor sich nieder, als hätte die steinerne Tischplatte Gucker und Lauscher, und stellte Momas Selbstbeherrschung wahrhaftig auf eine steinerne Probe und Mama jedes Mal vor die Entscheidung zwischen Schreikrampf und Lachkrampf. Papa hörte zu, und, wie mir schien, mit Interesse – soweit von seinem Gesicht überhaupt etwas Verlässliches abzulesen war. Ich gab es bald auf, einen Handlungsfaden zu finden, und nahm mir Papa als Beispiel. Ich dachte, eigentlich tut Herr Dr. Martin das Gleiche wie die amerikanischen Schlagersänger im Radio, nach denen Mama ständig die Sender absuchte: Er macht Musik mit Worten, die keiner versteht und keiner zu verstehen braucht. Er hatte eine angenehme Stimme; ich lauschte, ohne auf den zähen Inhalt zu achten, und die fremden Namen und Begriffe
Weitere Kostenlose Bücher