Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
im Ägyptologischen Institut sehr genau beobachtet: Noch nicht einen Blick hatte sie Herrn Dr. Martin gegeben – und nicht einen Moma. Auch kein Dankeschön an unseren Gastgeber, sie zog Papa hinter sich her und verschwand in Herrn Dr. Martins Schlafzimmer. Als wir allein in der Wohnung gewesen waren, hatte sie gesagt, es sei mehr als gerecht, wenn es uns endlich einmal gutgehe, wir sollten uns nur kräftig aus dem Eisschrank bedienen und nichts dabei denken und unsere Schmutzwäsche im Bad einfach in eine Ecke schmeißen. Papa hat die Wäsche aufgehoben und halbwegs zusammengefaltet und neben das Waschbecken gelegt. Mama führte ihren Feldzug weiter.
Während Moma badete, saß ich mit Herrn Dr. Martin in der Küche. Der Tisch imponierte mir, er war zu groß für den Raum und anders als die übrige Einrichtung; seine Platte war aus grünem gesprenkeltem Stein, der in einem Holzrahmen lag. Ich probierte, ihn zu heben, aber er war viel zu schwer. Ich probierte, ihn zu verschieben, aber er war viel zu schwer. Ich fragte Herrn Dr. Martin, ob er schon einmal das Pech gehabt habe, dass ihm ein Teller aus der Hand gerutscht und auf der Platte zerbrochen sei. Er sagte, ja. Ich sagte, ich könne mir vorstellen, der Tisch sei leicht zu putzen, leichter als Holz. Er sagte, genau so sei es und nicht anders. Wir kriegten ziemlich deutlich mit, wie es Mama und Papa in seinem Schlafzimmer miteinander trieben. Herr Dr. Martin blickte vor sich nieder und hörte zu. Die Angst und die Verlegenheit von heute Mittag waren aus seinem Gesicht verschwunden. Ich suchte nach Missbilligung. Fand nichts. Nach Ungeduld. Fand nichts. Er fühlte sich wohl. Wir – Moma, Mama, Papa, ich – würden alle Hölzchen seines Lebensmodells durcheinanderwirbeln, und er war einverstanden damit. Angst, so dachte er, sollte er haben vor dem normierten termitenhaften Dasein, in das er hineinzurutschen drohte, aber nicht vor einem Tag wie diesem! Was – dachte er – was werde ich mir im letzten Atemzug meines Lebens vorwerfen? Sollte man nicht – dachte er – in allen Situationen diese Frage an sich richten? Und was wird die Antwort sein? Du hast zu wenig gelebt! Immer und auf alle Fälle: Du hast zu wenig gelebt! Und er dachte: Fachärzte kümmern sich um ihren Mann, wir haben uns nichts vorzuwerfen, er ist alt, sie ist jung, ich habe meinen Arm um sie gelegt, sie hat ihren Kopf an meine Brust gedrückt, ich werde uns in meinem Arbeitszimmer auf dem Boden ein Bett bereiten, und wir werden es miteinander treiben, wie es die beiden gerade in meinem Schlafzimmer tun … – Wenn Mama betrunken war, wurde sie laut, das war immer so gewesen. An diesem Tag, in dieser Nacht war die Liebe zudem ein Mittel in ihrem Waffengang gegen Moma, und Krieg ist, wie jeder weiß, deutlich lauter als Liebe. Herr Dr. Martin hörte zu, hob seine Mundwinkel und betrachtete seine Hände. Eine Haarsträhne fiel über seine Stirn, er schob sie nicht beiseite.
Nach einer Weile fragte er mich, ob ich schon wisse, in welche Schule ich im Herbst komme, hier in Wien. Er wartete meine Antwort nicht ab. »Die Frage ist ein Unsinn«, stammelte er. »Wie solltest du sie beantworten können.«
»Ja«, sagte ich.
Er sagte, im Prinzip stünden mir alle Schulen in Wien zur Verfügung. Wie erwähnt, neigte ich als Kind dazu, Aussagen, die ich nicht verstand, zunächst wörtlich zu nehmen und in eine visuelle Vorstellung zu übertragen. Es wollte mir aber nicht gelingen, ein Bild von einer Schule zu entwerfen, die jemandem zur Verfügung steht . Wie sollte die aussehen, was sollte das heißen? Eine Interpretation konnte lauten, dass jede beliebige Schule der Stadt Wien, wenn ich es nur wollte, allein für mich da sein würde. Ich hielt das nicht für ausgeschlossen. Nicht weil ich dem Westen und seiner Freiheit alles zutraute, sondern weil ich Herrn Dr. Martin vieles zutraute. Er stellte Mama und Papa sein Schlafzimmer zur Verfügung , er verfügte , dass Opa gesund wurde – warum sollte er nicht verfügen können, dass sich eine Schule nur um mich allein und mein Fortkommen kümmerte? Das wäre mir übrigens sehr recht gewesen. Ich fühlte mich nämlich nicht erzogen. (Sebastian hat mir eine Anekdote erzählt, die er in den Tagebüchern Friedrich Hebbels gelesen habe; sie berichtet von einem zehnjährigen Knaben, einem nachmals berühmten Juristen des 19. Jahrhunderts, der von seinem Gesparten bei einem Buchhändler ein Werk über Kindererziehung erstanden und es seinen Eltern mit den
Weitere Kostenlose Bücher