Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Meine Mutter arbeitete in einer Molkerei und brachte Milch, Käse und Butter mit nach Hause und stank danach. An manchen Tagen besuchte sie Veranstaltungen an der Universität, das heißt, sie schlich sich in den Hörsaal.
Ich besaß zwei Hosen und Unterwäsche und drei Paar Socken und zwei Hemden, ein weißes und ein hellblaues mit dunkelblauem Kragen und dunkelblauen Manschetten, welches mir I a stand und das ich besonders mochte. Die schmutzige Wäsche weichte ich in kaltem Seifenwasser ein, knetete sie, spülte sie und legte sie auf die Fensterbänke oder über die Schnüre, die durch den Raum gespannt waren. Ich hätte auch gern Opas Wäsche versorgt, aber das wollte er nicht. Er zeigte mir, wie man die Hemden im noch feuchten Zustand glättete, so dass sie fast wie gebügelt aussahen; zeigte mir, wie man einen Knopf annäht und wie man ein Loch im Socken stopft. Die Hosen solle ich sorgsam im Bug falten und unter das Leintuch legen und eine Nacht darauf schlafen.
»András«, sagte er einmal, »mir geht so viel durch den Kopf. Lauter Gedanken, die mir im Leben nicht durch den Kopf gegangen waren. Ich mache mir manchmal Vorwürfe, dass wir dich nie mit dem lieben Gott bekannt gemacht haben. Dann bin ich wieder froh darüber. Einmal so, einmal so. Weißt du, was mir heute gleich nach dem Aufwachen in den Sinn gekommen ist? Nämlich der Gedanke: Der liebe Gott hat alles geschaffen, was ist. Hab ich recht?«
»Weiß ich nicht«, sagte ich.
»Es ist so, glaub mir. Wer soll es denn sonst erschaffen haben? Aber dann bin ich erschrocken, weißt du. Alles, was ist, hat er erschaffen. Was er nicht erschaffen hat, ist nicht. Aber sich selbst hat er doch nicht erschaffen. Also ist er nicht. Verstehst du?«
»Nein, das verstehe ich nicht.«
»Du meinst, das ist nicht wichtig. Was denkt er sich denn da, meinst du. Für dich ist es nicht wichtig, für Moma auch nicht und für deine Mutter und deinen Vater auch nicht. Ich mache mir Sorgen, weil es für mich auf einmal wichtig ist. Ich habe mir gedacht, uns hat einer erschaffen, der nicht ist. Stell dir das vor! Was soll aus solchen wie uns werden? Ich habe mich nicht getraut, die Augen zu öffnen. Kannst du dir denken, warum ich mich nicht getraut habe?«
»Keine Ahnung, ich lüge nicht, ich habe wirklich keine Ahnung.«
»Ich habe gedacht, es sitzt jemand neben meinem Bett, der wartet, bis ich aufwache, um mich abzuholen. Nämlich Gott, der nicht ist, sitzt neben meinem Bett, und wenn er mich berührt, bin ich auch nicht mehr.«
»Nur ich bin hier, Opa, sonst ist niemand hier.«
»Erinnerst du dich an die Geschichte von den zweitausend Teufeln, die Jesus aus einem Mann ausgetrieben hat?«
»Die dann in die Schweine hineingefahren sind?«
»Ich denke, jeder Teufel hat sich ein kleines Stück aus dem Mann herausgerissen, bevor er ihn verlassen hat. Einen kleinen Bissen. Damit er etwas von dem Mann hat. Zweitausend kleine Bissen! Zweitausend kleine Bissen!«
»Soll ich für uns etwas Süßes einkaufen? Beim Westbahnhof haben sie einen neuen Kiosk gebaut, dort gibt es die guten Schwedenbomben aus dem Hause Niemetz, rot eingepackte und blau eingepackte, im Silberpapier, sie schmecken aber beide gleich. Ich kann uns sechs Stück holen. Im halben Dutzend sind sie billiger. Willst du das?«
»Ja, das hätte ich gern, András. Aber noch etwas muss ich dir sagen: Es gibt das Gute und das Böse, den Himmel und die Hölle. Meine Sorge ist: Man kann sich an beide gewöhnen. An den Schmerz kann man sich nicht gewöhnen. Aber man kann sich an den gewöhnen, der einem die Schmerzen zufügt. Man sitzt mit ihm an einem Tisch und lacht mit ihm. Kannst du dir das vorstellen, András? Teufel sind viele, darum sind sie bei uns. Gott ist nur einer, darum sind wir bei ihm. Brauchst du Geld, András?«
Ich besorgte uns sechs Schwedenbomben, er aß vier, ich zwei. Ich wischte ihm die cremige Zuckermasse von der Nasenspitze. Er war Dr. Ernö Fülöp, der Leiter der internen Abteilung an der Semmelweisklinik in Budapest, eine Kapazität, ein Kapazunder, oder wie Moma sagte: ein »Kapuzenwunder«, begnadet, auserwählt, mächtig und unbesiegbar, der infolge eines Irrtums am 4. Jänner 1953 von den ÁVH-Männern Janko Kollár (wie Moma später recherchierte: verheiratet, zwei Töchter, hingerichtet am 22. Mai 1953 an einem unbekannten Ort), Lajos Szánthó (ledig, bei seiner Schwester wohnend, hingerichtet am 22. Mai 1953 an einem unbekannten Ort) und Zsolt Dankó (verheiratet, einen Sohn,
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