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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Worten übergeben hatte, er wünsche, nach diesem Buch erzogen zu werden. Der Knabe hätte ich sein können. Wenn schon kein Buch, dann wenigstens einen Lehrer. Warum nicht Herrn Dr. Martin?) Ich fixierte ihn. Er hielt stand. Ich traute ihm wirklich viel zu. Er hatte einen respektablen Kopf und schöne Hände. Auch er fand seine Hände schön. Das war nicht zu übersehen. Sie lagen ausgespreizt vor ihm auf dem Tisch. Es hatte etwas Beruhigendes, sich vorzustellen, wie sie in einem Buch blätterten. Ich lächelte ihn an – und hatte ihn gewonnen.
    Dass er nie in seinem Leben so schöne Sommersprossen gesehen habe, sagte er. »Hat dir das schon einmal jemand gesagt?«
    »Ja.«
    »Und freust du dich darüber?«
    »Weiß nicht.«
    »Magst es nicht gern, wenn man dich lobt?«
    »Nein.«
    »Das ist ein schöner Zug.«
    »Weiß nicht.«
    »Aber ich weiß es. Glaubst du mir?«
    »Ja.«
    »Freust du dich, in Österreich zu sein?«
    »Ja.«
    »Würdest nicht lieber zurück nach Ungarn?«
    »Nein.«
    »Nie mehr?«
    »Weiß nicht.«
    »Glaubst du, wir beide werden gut miteinander auskommen?«
    Die richtige Antwort wäre gewesen: Weiß nicht. Wer kann schon in die Zukunft sehen? Gedacht habe ich: Nein. Jedenfalls nicht auf Dauer. Weil ich voraussah, dass es zwischen Moma und ihm Schwierigkeiten geben würde.
    Geantwortet habe ich: »Ja.«
    Auf dem Tisch lag eine Zeitung. Ich las: Auf die unbestätigte Nachricht eines Herzanfalls von US -Präsident Dwight D. Eisenhower hin kam es an der New Yorker Börse zu starken Kurseinbrüchen. Was ein Herzanfall ist, wusste ich. Ich hatte drei bei meinem Großvater miterlebt – kalkgraues Gesicht, aus dem kein Ton kam. Was eine unbestätigte Nachricht ist, konnte ich mir denken; dass Eisenhower der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika war, wusste ich; von der Stadt New York hatte ich gehört; was man unter Börse und Kurseinbrüchen verstand, wusste ich nicht. Ich war in einem anderen Land. In einer anderen Welt. Ich konnte alles werden. Auch Präsident. Dazu brauchte ich mir nicht erst eine Bestätigung von den Sternen einzuholen. Ich legte meine Hand auf die Zeitung. Nahm sie aber gleich zurück. Dr. Martin sollte nicht denken, es bedeute etwas.
    »Magst du Kakao?«, fragte er.
    »Ja.«
    »Soll ich uns einen aufkochen?«
    Ich lächelte wieder. Auch mir stand etwas zur Verfügung : mein Lächeln – genauer: mein Lächeln in Kombination mit meinen Sommersprossen und meinen Locken.
    »Kennst du Ovomaltine?«, fragte er.
    »Nein.«
    Er stellte einen Topf auf den Herd, goss Milch hinein und zündete das Gas an. »Ich bin mir sicher, du wirst begeistert davon sein.«
    Und das war ich auch. Was für ein Tag! Nach Coca-Cola ein weiteres Nahrungsmittel, von dem ich meinte, nie wieder etwas Besseres zu bekommen.
    Ich sagte: »Mein Großvater ist selber Arzt.«
    »Oh. Aha. Umso besser«, antwortete er.
    Moma kam aus dem Bad und setzte sich zu uns. Die Liebes- und Kriegsgeräusche aus dem Schlafzimmer ignorierte sie ebenso wie Herr Dr. Martin. Sie hatte sich geschminkt und das Hübscheste aus ihrem Koffer angezogen. Herr Dr. Martin wollte eine zweite Flasche aufmachen, um mit ihr auf die Freiheit anzustoßen – und um noch einmal um Vergebung zu bitten wegen seines schroffen Auftretens im Institut. Moma sagte, sie wolle sich am ersten Tag im Westen nicht die Pupille eintrüben. »Szabadság! Freiheit! Freedom! Svoboda!«, rief sie und ließ sich doch ein Glas einschenken.
    In der Küche stand ein Kanapee aus rotem Samt, in der Mitte eingesackt, an den Ecken abgewetzt. Herr Dr. Martin und Moma überzogen für mich ein Bett. Sie löschten das Licht, schlossen die Tür, ich hörte ihre Stimmen und schlief ein.
     
    Und wachte auf, nachdem sich meine Tiere von mir verabschiedet hatten. Draußen war es bereits hell. Ich öffnete das Küchenfenster und setzte mich aufs Fensterbrett. Ein feiner Regen fiel. Ich hatte mit den Tieren besprochen, was meine Familie am Tag zuvor zwischen den Museen besprochen hatte: wie man sich in einem ÁHV-Gefängnis das Leben nehmen könnte. Mama war zuletzt auf die Idee gekommen, sich die Schlagader am Handgelenk aufzubeißen. Das Tier mit dem Vogelkopf hatte gehustet. Das Tier mit dem Stierkopf hatte auch gehustet. Die Katze hatte sich verschluckt. Und der große Käfer hatte sich auch verschluckt. Ich lauschte auf die Vögel, die in den Wiener Morgen hineinriefen, und beschloss, nicht mehr an die Tiere in meinen Träumen zu glauben. Sie gehörten nach Ungarn,

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