Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
prägten sich mir ein, wie sich Mama die fremden Worte und Melodien einprägten, und ich hätte die Götternamen jederzeit aufsagen können, wie Mama jederzeit Don’t Be Cruel von Elvis Presley oder I Almost Lost My Mind von Pat Boone oder True Love von Bing Crosby und Grace Kelly hätte nachsingen können. Die Toleranz, die sie ihren Idolen entgegenbrachte, ließ sie Herrn Dr. Martin gegenüber nicht walten: Sie verrollte die Augen und zischte in Papas Ohr hinein – erst auf ungarisch, dann demonstrativ auf deutsch –, sie habe nie in ihrem Leben jemanden getroffen, der ein so langweiliges Zeug daherrede. Da hat sie Moma zurechtgewiesen, und obwohl ihr die Geschichten, die leider keine waren, nicht weniger auf die Nerven gingen, bat sie Herrn Dr. Martin weiterzuerzählen und legte ihm die Hand an die Wange. Ich sah ihre Verzweiflung und sah die Hoffnungslosigkeit, wie sie einen befällt, wenn man ahnt, dass alles falsch ist, was man sagt und tut. Er könne nicht anders, verteidigte sie ihn; wenn er einen Gedanken einmal begonnen habe, müsse er ihn zu Ende führen, sonst werde er verrückt. »Und wir werden verrückt, wenn er ihn zu Ende führt«, konterte Mama. Worauf Moma sagte: »Er muss sich von mir erholen, und das kann er nur, wenn er denkt. Also, lass ihn denken!« – »Dazu braucht er uns aber nicht«, giftete Mama nach und seilte sich ab ins Bad und ließ sich in der Wanne aufweichen. Und Moma ging schließlich auch – ins Arbeitszimmer, wo sie Schleifen vor dem Schreibtisch ihres Geliebten drehte und wartete, dass er endlich zu ihr komme, vergebens.
Papa und ich blieben und hörten Herrn Dr. Martin zu. Papa blickte, wie es seine Art war, an ihm vorbei, und ich tat wie er. Länger als eine Stunde dauerte die Revolte unseres Gastgebers selten. Hinterher berichtete er den Frauen – Mama frisch gebadet, nach Seife und Rasierwasser duftend, Moma verweint –, wir drei hätten uns prächtig unterhalten. Mama sagte und kam nicht los von ihrem eigenen Gesicht, das sich in dem halboffenen Fensterflügel spiegelte: »Die beiden haben nicht zugehört, das sollten Sie mir ruhig glauben, sie tun nur so, so tun sie immer, sie hören nie zu!« Aber Papa konnte in einem Test auf den Heller genau nacherzählen, was ihm Herr Dr. Martin vorerzählt hatte – viel besser als dieser sogar, was zugegebenermaßen keine Kunst war.
Moma stellte sich hinter Herrn Dr. Martin und fuhr mit den Fingerspitzen über seine Schläfen und fragte: »Hast du jetzt genug gedacht, Schäck?«
Er lächelte und verdrehte sich im Sitzen und schaute zu ihr auf: »Ja, jetzt habe ich genug gedacht.«
Moma aber lächelte nicht. Sie legte ihre Wange auf seinen Kopf und lächelte nicht.
»Warum interessiert dich nicht, was ich denke?«, fragte er.
»Ich interessiere mich für dich«, sagte sie, »und nicht für deine Gedanken.«
»Aber meine Gedanken, das bin ich.«
»Nein, das bist du nicht. Ich weiß das, Schäck.«
»Ich will ein Buch schreiben. Eine altägyptische Genesis. Einen altägyptischen Hesiod. Ich will dir und deinem Buch Konkurrenz machen, verstehst du?« – Er verzog sein Gesicht, was zunächst freundlich aussah, aber dann über die Unterlippe ins Schäbige rutschte. »Oder«, sagte er, »sollen wir es gemeinsam schreiben?«
Moma antwortete nicht und sah ihn nicht an.
»Und wessen Name steht auf dem Buchdeckel, was denkst du? Dein Name oder mein Name?« Bosheit war nun in seiner Stimme, und ich wusste nicht, worauf sie abzielte.
»Deiner an erster Stelle natürlich«, sagte sie kleinlaut, ich hoffte vergebens auf ihren Zorn. »Du bist der Brillant in unserem Dunstkreis. Das sage ich nicht nur, das meine ich auch so.«
»Wann wollen wir damit beginnen?«
»Sofort, wenn du willst, Schäck.« Sie beugte sich zu seinem Ohr nieder und flüsterte: »Komm doch mit ins Arbeitszimmer, komm doch!«
Er schob sie von sich weg. »Nein, nein, spazieren wir durch Schönbrunn. Ich kann vorzüglich denken beim Gehen. Ich erzähle dir von meiner Idee, und du hörst zu. Du erzählst mir von deiner Idee, und ich höre dir zu. Oder anders, oder so oder so oder anders. Wie du es wünschst. Ganz, wie du es wünschst.«
»Ich habe keine Ideen, Schäck, das weißt du.«
»Oh, das sagst du nur. Du hast wunderbare Ideen. Jeder kennt dein Buch. Jeder wartet auf dein nächstes. Ich kann dir helfen, deine Hemmung zu überwinden. Alles, was wir brauchen, ist jemand, der am Ende entscheidet, welche Idee die bessere ist, deine oder meine.«
Für
Weitere Kostenlose Bücher