Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Moma war dieses Spiel eine Qual. Sie wusste, er würde nicht nachgeben, und sie fand keinen Weg auszusteigen. »Also gut, Schäck. Wer soll das entscheiden? Klären wir eben auch das noch.«
»Er«, sagte Herr Dr. Martin und zeigte auf mich. »András! Ihn nehmen wir mit auf unseren Spaziergang.«
Spaziergänge und Ideen interessierten Moma nicht. Sondern dies: Herr Dr. Martin war bisher nicht verheiratet gewesen. Das »bisher« hieß, er war dreimal kurz davor gestanden. Zweimal mit derselben Frau sogar. Dazwischen war eine andere gewesen. An diese andere musste er immer wieder denken. Moma wollte alles über sie wissen. Ob sie in Wien lebe. Ob er sie manchmal treffe. Ob sie inzwischen nur mehr Freunde seien, sie und er. Ob er mit ihr korrespondiere. Ob er in der Nacht an sie denke. Ob er Fotos von ihr besitze. Ob er ihr auch so viel über seine Ideen erzählt habe? – Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein.
Endlich verschwanden die beiden im Arbeitszimmer, und bald darauf verließen auch Mama und Papa die Küche. Und ich öffnete das Fenster ganz und schaute hinunter in den Hof und stellte mir vor, wie ich den Anhänger vom Unkraut befreite, und schaltete das Radio ein und drehte es so laut, dass der Mann, der über der Mauer in den Gärten arbeitete, die Nachrichten mithören konnte, und dachte darüber nach, warum Mama von ihrem eigenen Spiegelbild so sehr in Bann geschlagen wurde, ob sie sich selbst so gut gefiel oder ob eine Zauberkraft durch einen Spiegel oder ein spiegelndes Fenster oder einen Metallstreifen hindurch ihre Augen an ihre Augen klebte und sie sich dagegen nicht wehren konnte.
Opa fehlte niemandem. Moma besuchte ihn trotzdem jeden Nachmittag im Krankenhaus. Mama war nur einmal dort, Papa angeblich öfter. Auch Dr. Martin besuchte ihn. Ich nicht. Es war alles viel einfacher ohne Opa. Als er entlassen wurde, konnten wir nicht mehr länger in Herrn Dr. Martins Wohnung bleiben.
4
Herr Dr. Martin fand ein Zimmer für uns, in der Nähe vom Urban-Loritz-Platz, draußen am Gürtel. Es lag im Parterre, hatte vier Fenster auf die Straße hinaus und sollte nur vorübergehend Unterkunft für uns sein – bis Moma endlich die Schweizer Angelegenheit geregelt hätte, in deren Folge wir »mit links zwei große Wohnungen in feinster Lage mieten könnten«, wie sie sich ausdrückte. (Warum sie die Fahrt in die Schweiz immer wieder hinausschob? Auf unserem elenden Weg durch das Schilf zur österreichischen Grenze hatte sie – gesungen fast hatte sie, dass sie als erstes, wenn wir freien Boden unter den Füßen hätten, in die noch freiere Schweiz fahren würde, um die größte aller Freiheiten, genannt: das viele Geld, zu holen. Die Antwort liegt auf der Hand: Sie wollte Herrn Dr. Martin nicht allein lassen, auch nicht für ein paar Tage, sie glaubte ihm seine sieben Nein nicht.) Mama war empört und stampfte fluchend durch die Küche, als wäre sie hier zu Hause und Herr Dr. Martin ihr Gast. Wie das bitte gehen solle, zu fünft in einem Raum! Was er sich um Himmels willen dabei gedacht habe! Er könne gleich auch das Schlachtbeil mitliefern und einen Strick für sie.
Es ging.
Das Zimmer war sehr groß, ein kleiner Saal. Keine Heizung. Klo am Gang. Kein Bad, keine Dusche. Wir verhängten den Raum mit Leintüchern, die uns Herr Dr. Martin spendiert hatte (ebenso wie die wenigen Möbel; Betten waren genügend vorhanden, das Zimmer hatte vor uns als Schlafstelle für Schichtarbeiter einer Baufirma gedient). Jeder hatte seinen eigenen Platz. Meiner war ohne Fenster. Opa und Moma bekamen den größten Teil. Mama und Papa den mit dem Waschbecken und dem Herd. Wer hat das Zimmer bezahlt? Ich nehme an, Herr Dr. Martin hat Moma Geld vorgestreckt. Wie sollte es anders gewesen sein?
Opa redete fast gar nichts mehr. Das hatte wahrscheinlich mit den Tabletten zu tun. Die meiste Zeit waren er und ich allein. Mama und Papa bemühten sich, eine gute Arbeit zu finden, wenn möglich etwas Festes und etwas Schwarzes, so dass keine Steuern abgezogen wurden. Sie war in Budapest knapp vor ihrem Abschluss gestanden und deshalb gar nicht erfreut über unsere Flucht gewesen. Über den Studiengang meines Vaters war ich mir nicht recht im Klaren, nicht einmal, ob er noch studierte – oder je studiert hatte. Er half manchmal am Westbahnhof aus, ich weiß nicht, was er dort tat, irgendetwas mit Paketen. Er zeigte mir seine Muskeln, sagte, seine Arbeit sei wie Stemmen, nur dass man dafür ein bisschen Geld bekomme.
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