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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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sie gehörten in die Báthory utca. In die Folterkeller der Államvédelmi Hatóság in der Stalinstraße 60. Nach Szabadsághegy in die Villa auf dem Freiheitsberg. Ich blickte auf eine Ziegelmauer, über die der Efeu wuchs. Im Hof stand ein Autoanhänger mit einer blau lackierten Deichsel. Seine Reifen waren im Unkraut versunken. Verrostete Eisenteile lehnten an der Mauer. Daneben waren Holzpaletten gestapelt, über die eine Plane gelegt war, an den Ecken befestigt mit Steinen. Ich stellte es mir wunderbar vor, in diesem Hof zu spielen, einen Ball gegen die Mauer zu treten oder irgendetwas zusammenzunageln. Ich hatte Sehnsucht nach meinen Märklin -Baukästen. Hinter der Mauer ragten Ahornbäume in den Himmel. Einer der Stämme war bis zu den Ästen hinauf gespalten. Hinter den Bäumen standen Villen mit verglasten Veranden hinaus zum Garten. Ein kühler Hauch wehte vom Hof herauf, brachte seine Gerüche mit, ein bisschen Erde, ein bisschen Pflanzenduft. Ich war ruhig und dachte nicht, was in fünf Minuten geschehen wird oder in einer Stunde, und ich war zuversichtlich, dass mir nichts Schlimmes im Leben widerfahren wird. – Sehr lange würde ich nicht mehr von meinen Tieren träumen.
    Ich schlich mich ins Schlafzimmer. Mama und Papa lagen mit den Beinen übereinander, sie auf dem Bauch, er auf dem Rücken. Sie war zugedeckt. Sein Penis war klein und hell wie die Schamhaare darum herum. Ich öffnete sein Augenlid. Er merkte es nicht. Ich schlich mich ins Arbeitszimmer. Moma und Herr Dr. Martin lagen eng beieinander, sie in seinem Rücken, den Arm um ihn gelegt. Ich öffnete sein Augenlid. Er merkte es nicht. Ich ging zurück in die Küche, zog die Decke über meinen Kopf und schlief wieder ein.
     

3
     
    Herr Dr. Martin war um vier Jahre jünger als Moma. Mir kam er älter vor. Er war groß. Wenn er vor mir stand, verdeckte die Unterseite seines Kinns die Hälfte seines Gesichts, und wenn er den Arm ausstreckte, hatte Moma darunter Platz. Und Moma kam mir so jung vor! Ja, seit wir in Österreich waren, kam sie mir so jung vor! Sogar jünger als Mama. Sie hatte nichts wirklich Nettes anzuziehen und borgte sich manchmal von Herrn Dr. Martin ein Hemd; das war ihr viel zu weit, und sie musste die Ärmel hochkrempeln, aber an ihr sah es aus wie die »Kreation eines Modeschöpfers« – Worte von Herrn Dr. Martin. Meine Mutter war eifersüchtig. Sie zupfte an Papa herum. Wenn er zu lange nach Moma sah, hielt sie ihm mit beiden Händen die Augen zu und tat dabei, als wär’s nur ein Spaß. Sie war immer auf Moma eifersüchtig gewesen. Weil sich meistens alles um Moma gedreht hatte. Wenn Moma fröhlich war, herrschte Fröhlichkeit; wenn sie geschäftig war, Geschäftigkeit. Wenn wir am Küchentisch saßen und sie die Hände im Nacken verschränkte, verschränkten die Hände im Nacken nacheinander: zuerst Herr Dr. Martin, dann Papa, dann ich und zuletzt Mama. Herrn Dr. Martin dirigierte sie wie der Wind den Schatten der Zweige; die meiste Zeit schwieg er, als wäre er ein schüchterner Gast. Mama versuchte mit unausgesetzter schlechter Laune zu opponieren – eine Plage war sie. Papa war alles und nichts, eine Sphinx mit gelegentlichen milden Meinungen, nicht gleich entschlüsselbaren Witzchen, und wenn es gefragt war, fundierten Erklärungen. Ruhe gab es selten. Volle Aschenbecher und die Spüle voller Gläser und schmutzigem Geschirr.
    Ich lernte Kochen. Moma zeigte mir, wie man Kartoffelsuppe mit einem Schuss Essig und Majoran zubereitet, ich glaube, es war die einzige Speise, die sie beherrschte; und es war lange Zeit meine Lieblingsspeise gewesen. Auch Papa hat mir ein paar Gerichte beigebracht. Bratkartoffeln mit Speck zum Beispiel. Er war am Morgen nach mir der zweite, der aufstand. Gerade hatten die Amseln mit ihrem Konzert begonnen. Er setzte sich zu mir in die Küche und erzählte von Bratkartoffeln mit Speck und Butter und dass er als Kind nichts lieber zum Frühstück gegessen habe, mit viel Schnittlauch zum Schluss, vorher aber unbedingt zwei Eier darübergeschlagen. Er erzählte mit Pausen, bewegte seine Zunge im geschlossenen Mund, von einer Backe in die andere, über die Zähne, innen an den Lippen entlang, so dass ich mir einbildete, sehen zu können, wie seine Bratkartoffeln schmeckten – mit Zwiebeln und Speck und Spiegeleiern und Schnittlauch und Paprikagewürz und Pfeffer und Salz und unter keinen Umständen zu wenig Butterschmalz. Ich schrieb mir absichtlich nichts auf, wollte gar nicht das Rezept

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