Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Frisierspiegel betrachteten. Sie schaute auf mein Bild, ich auf ihres.
Meine Mutter und ich schliefen in einem Bett, es gab nur eines. Ich dachte, das würde ich nicht können, und in den ersten Nächten lag ich lange wach. Ich lauschte ihrem dünnen Schnarchen und empfand Schadenfreude, wenn sie zuckte. Ich glaubte, das rühre von bösen Träumen her, und die gönnte ich ihr, und wieder wurde mir bewusst, wie wenig ich sie kannte. Bisher hatte dieser Gedanke immer ein bisschen Ekel mitgebracht; diesmal nicht. Eltern erzählen ihren Söhnchen und Töchterchen gern von ihrer eigenen Kindheit – und sei es nur, um dem realen Tyrannen einen virtuellen Kumpanen beizugesellen; meine Mutter war für mich immer ohne Herkunft gewesen. Sie hatte mir nie eine Geschichte erzählt von »als ich klein war«. Ich war aus ihr geworden, aber niemand hatte mir je gesagt, dass dies auch nur irgendeine Bedeutung habe – für sie oder für mich. Nun entdeckte ich die Haut an ihrem Oberarm, die Wärme und den Geruch, und schließlich kroch ich näher an sie heran. Es war kalt in dem Zimmer, die Wände waren zugig. Bis zur Hälfte der Nacht reichte die Glut in dem kleinen, verzierten Kachelofen draußen im Laden, die Tür ließen wir offen. Ich atmete, wie sie atmete, ahmte ihr Schnarchen nach und schlief ein. Ich schlief ein in ihrem Rücken und wachte auf an ihrer Brust.
Ich sagte: »Ich habe geträumt, wir beide liegen in deinem Bett in der Báthory utca.«
»Liegen wir aber nicht«, sagte sie.
»Außerdem habe ich im Traum geträumt, ich träume.«
»Das kenn ich. Das habe ich auch schon geträumt. Und was hast du im Traum in deinem Traum in der Báthory utca geträumt?«
»Dass wir hier in diesem Bett liegen.«
»Wie soll das gehen?«, sagte sie. »Was du redest! In der Báthory utca wussten wir nicht, dass dieses Bett überhaupt existiert.«
»Ich hab’s in Wirklichkeit gar nicht geträumt. Ich habe dich angelogen.«
»Und warum?«
»Weil es lustig ist. Ich könnte den Frauen davon erzählen. Bestimmt lachen sie. Ich bringe sie durcheinander. Das mögen sie. Wir kriegen Trinkgeld.«
»Nein«, sagte sie.
»Ich würde aber gern«, sagte ich.
»Nein«, sagte sie.
Meine Mama war ein ernster Mensch. Man kann auch sagen, sie war ein humorloser Mensch. Im Gegensatz zu mir, der ich in der Wahrheit stets nur eine Option gesehen habe, sah sie in der Lüge keine. Klar, sie hat hin und wieder gelogen, aber sie hat sich jedes Mal binnen kurzer Frist selbst korrigiert. Sie sagte: »Ich will mich korrigieren, ich habe vorhin nicht die Wahrheit gesagt.« Sie sagte nicht, ›ich habe mich geirrt‹ oder ›ich habe etwas missverstanden‹, wie sich die Lügner – die ungeschickten – verteidigen, wenn man ihnen dahinterkommt. Sie gab zu, die Wahrheit nicht gesagt zu haben, und gestand damit zugleich die Absicht zur Lüge. Und ihren Doktor wollte sie auf alle Fälle machen; davon sprach sie eine Zeitlang jeden Tag, dann nur noch einmal in der Woche, dann nicht mehr.
»Warum darf ich nicht?«, fragte ich.
»Du gibst vor, etwas zu sein, was du nicht bist.«
»Was denn? Ich erzähle nur einen Traum.«
»Den du aber nicht geträumt hast.«
»Was ist schlimm daran?«
»Du machst dich damit interessanter, als du bist.«
»Alle halten mich für interessant. Merkst du das denn nicht?«
»Nein.«
»Aber es ist wahr, sie halten mich für interessant!«
»Dann sag ihnen, dass du nicht interessant bist.«
»Aber ich bin interessant!«
»Wie willst du das wissen?«
»Du könntest es mir sagen.«
»So etwas sage ich zu dir nicht.«
Und mit Ironie konnte sie auch nicht umgehen. Ich weiß, das gilt als Zeichen mangelnder Intelligenz. Das ist aber eine sehr ungerechte Betrachtungsweise und von Lügnern erfunden, die ihre kleinen Verstöße gegen das achte Gebot gern als Ironie bezeichnen, um die Lüge als solche und somit ihre großen Verstöße ins Licht einer Geistesleistung zu stellen.
»Ich habe einen anderen Namen«, sagte ich.
»Das weiß ich«, sagte sie.
»Und wie lange muss ich diese Unwahrheit sagen?«
Wenn uns Mama in der Báthory utca besucht hatte, hatte sie mich übertrieben groß angeschaut und in übertrieben raunendem Ton von »etwas überaus Merkwürdigem« erzählt, was ihr auf dem Weg zu uns zugestoßen sei. Ich hatte ihr kein Wort geglaubt, ausgerechnet ihr nicht. Ich hatte gedacht: Warum lügt sie? Und weil alles, was einem zum ersten Mal begegnet, zum Inbegriff wird, war sie für mich der Inbegriff der
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