Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Wofür? Nach Süßem war ich nicht so verrückt, wie ich mir anfangs eingebildet hatte. Manchmal kaufte ich eine Coca-Cola. Ich schaute in die Schaufenster von der Spielwarenhandlung Kober am Graben. Ich überlegte, ob ich hineingehen und fragen sollte, ob sie den 99er »Bagger I« und den Ergänzungskasten 99 a »Der neue Kran« hätten. Aber bei dem Gedanken war mir nicht wohl, darum ließ ich es. In einem Geschäft in der Kärntnerstraße sah ich einen Anzug in der Auslage, den ich mir sehr elegant an meinem Vater vorstellen konnte. Er war dunkelblau und hatte feine Streifen, fast weiße, und vorne zwei Knopfreihen und breite Schultern. Auf dem Puppenkopf saß ein Hut, auch der hätte meinem Vater gestanden. Ich hatte schon die Klinke in der Hand.
Nicht dass ich das mit den Männern besonders gern gemacht hätte, aber irgendwie fehlten sie mir doch. Dabei hatte ich kaum mit ihnen gesprochen; die ägyptischen Götternamen hatte ich manchmal aufgesagt und die Namen der Männer um Josif Stalin, anders betont und auseinandergerissen und russisch eingefärbt, wie ich mich an die Russen in Budapest erinnerte, die im Parterre in der Báthory utca gewohnt hatten – »Genrichja godaleo trotz kiwlad imiriwan owka radeknikbuch arina lawrent iberia …« Meistens hatte ich aber nur genickt oder den Kopf geschüttelt oder mit der Schulter gezuckt oder nichts. Einige von ihnen hätten sich gern mit mir unterhalten – über Fußball oder ein neues Auto, das sie sich zugelegt hatten und in dem sie gern mit mir in der Gegend herumfahren würden, ins Weinviertel zum Beispiel oder auf den Semmering, mit dem kleinen Russen, dem hübschen kleinen Russen, dem armen, hübschen kleinen Russen; das waren die Guten, die sich schämten; die anderen redeten auch mit mir, aber anders … – Das Sentiment, das ich nicht aus den Zeilen herauskriege (merken Sie es?), stammt übrigens von heute; wobei ich nicht sicher bin, ob es ein originäres, ernst zu nehmendes Gefühl ist oder ob nicht eher meine allmählich erlahmende Exzentrizität einem Klischee Platz macht, das für Erinnerungen solcher Art eben Sentimentalität vorsieht. – Ich habe gewartet. Ich war nicht verstört – denken Sie das nicht! –, auch nicht ängstlich. Die Männer gingen neben mir in die Hocke, plauderten drauflos und strubbelten mir über die Haare, gaben mir Ratschläge und Belehrungen, als wäre ich ein Lausbub, der gerade über den Zaun geklettert war, um seinen Ball zu holen. Ich habe sie nicht angesehen. Wenn sie meinen Kopf am Kinn hoben, um mein Gesicht zu betrachten, habe ich die Augen zugedrückt. Alles an den Männern war mir fremd und uninteressant, aber ihr Geschlechtsteil war mir vertraut, und ich freute mich darauf, es zu sehen. Alles an ihnen war mir nicht geheuer oder war mir unverständlich oder lächerlich oder belanglos; das Weiche, das in meiner Hand fest wurde, rechnete ich mir zu, nicht ihnen; ich durfte nur meinen Blick nicht davon abwenden – wie ein Kletterer in einer Felswand, wenn ihn ein Schwindel erfasst und er sich auf einen engen Fleck nahe vor seinen Augen konzentriert.
Emil vermisste ich bald nicht mehr, auch seine Mama nicht, nicht einmal ihr lustiges Pfeifkessellachen, auf das ich jeden Abend gehofft hatte, auch nicht die Gulaschsuppe und die Coca-Cola. Und bald war ich auch froh, dass die Männer mich nicht mehr besuchten, dass ich mich nicht mehr in die zerfallene Werkstatt zu schleichen brauchte, wo es nach Moder und scharfem Teer roch.
Was wir im frühen Herbst 1956 aus Ungarn erfuhren, über Radio oder über die Zeitungen, war deprimierend – insofern, als es nur gute Nachrichten waren. Die ÁVH sei aufgelöst worden oder werde demnächst aufgelöst; die Demokratie stünde unmittelbar bevor; die Bösen würden bestraft, die Guten belohnt werden. Irgendwann sagte Opa, es wäre vernünftiger gewesen, wir wären geblieben. Wie bequem doch die Möbel in der Báthory utca gewesen seien. Nicht einmal Moma widersprach ihm.
Im Oktober brach in Ungarn die weltberühmte Revolution aus. Im November wurde sie niedergeschlagen. Flüchtlingen, die keine Papiere bei sich hatten, wurden in Österreich ohne viele Fragen, ohne große Recherche, ohne böse Blicke, oft aus dem Ärmel heraus, neue ausgestellt. Mein Vater sagte, er sehe darin eine Chance, ein neues Leben zu beginnen. Etwas anderes, glaube ich heute, hat er nie gewollt.
7
Mein Vater hatte einen Plan. Und dieser Plan ließ sich in drei Worten zusammenfassen: Noch
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