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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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einmal fliehen .
    Moma blieb bei Opa in Wien, und wir drei, Mama, Papa und ich, fuhren zurück ins Burgenland – wieder nach Andau, das inzwischen wie sein Gendarm weltberühmt war, weil dort eine Brücke über den sogenannten Einserkanal führte, welcher mitten im Schilf um den Neusiedlersee Österreich von Ungarn trennte. Über diese Brücke flohen Tausende in die Freiheit; wir drei waren die einzigen, die in die andere Richtung gingen, und wir taten es in der Nacht, damit uns niemand sähe – die österreichische Grenzwache nicht, die ungarische Grenzwache nicht, die Fliehenden nicht, die Journalisten aus aller Welt nicht und die hilfsbereiten Österreicher nicht.
    Wir schlichen über die Brücke, duckten uns, so dass unsere Körper hinter dem Holzgeländer verschwanden. Auf der anderen Seite verdrückten wir uns ins Schilf und aßen unsere Wurstbrote. Mehr war nicht. Gegen fünf Uhr in der Früh kamen die ersten, Frauen ohne Gepäck. Sie rannten in ihren genagelten Schuhen über die Brücke, dass es klang, als werde aus allen Rohren geschossen. Drüben johlten sie. Als nicht zurückgejohlt wurde, standen sie still um den hölzernen Aussichtsturm herum, den das österreichische Bundesheer neben dem Kanal errichtet hatte. Der Turm war um diese frühe Tageszeit nicht besetzt. Daraufhin schritten sie eilig ins Feld hinein und johlten nicht mehr.
    Wir waren in dicke Mäntel gepackt, die hatte Moma organisiert, schäbig, aber warm. Ein stachliger Wind blies, unter ihm hockten wir im Schilf eng beieinander; ich zwischen Mama und Papa kriegte die Wärme aus ihren Lungen ab. Jeden von uns hatte Moma mit einem kleinen Koffer ausgestattet – je weniger einer bei sich trägt, so ging das Gerücht, desto freundlicher würde er empfangen. An der Größe des Gepäcks könne man ablesen, wie viel einem die Freiheit wert sei. In der Nacht vor unserer Abfahrt aus Wien hatte ich meinen Mantel präpariert; hatte das Innenfutter eines Ärmels ein Stück weit aufgetrennt und mein Geld eingenäht, die Scheine. Am nächsten Morgen war ich zum Märzpark gelaufen und hatte die Münzen unter einem Strauch vergraben. Vierundneunzig Schilling. Aufgeteilt auf zwei Socken. Ich sagte zu den Münzen, sie sollten bitte nicht eifersüchtig auf die Scheine sein und bitte nicht in der Erde versinken, ich würde sie hier nicht verrecken lassen, ich würde bestimmt kommen und sie holen, ich wüsste nur noch nicht wann. Das Papiergeld spürte ich in der Achselhöhle, es war immer bei mir, und es fühlte sich sehr gut an.
    Gegen sechs Uhr tauchten die nächsten Flüchtlinge auf. Sie kamen langsam näher, gaben keinen Laut von sich, auch nicht, als sie schon über der Brücke waren. Etwa dreißig Männer, Frauen und Kinder waren es. Hinter ihnen fielen wir nicht auf. Inzwischen hatten sich auf der anderen Seite Soldaten und Leute vom Roten Kreuz postiert. Wir hatten Glück und wieder Glück und ein drittes Mal Glück. Erstens, weil es nun noch heftiger stürmte und regnete, mit Schnee dazwischen, und deshalb noch weniger nachgefragt wurde als sonst. Zweitens, weil uns nicht einer der großen Mannschaftswagen zugeteilt wurde, sondern ein Privatauto – man denke sich nur: Eben jener freundliche ungarnstämmige Leutnant, der uns ein halbes Jahr zuvor nach Wien chauffiert hatte, war wieder da mit seinen Leuten! Papa hat ihn an der Stimme erkannt. Was würde der wohl gesagt haben, wenn er uns registriert hätte? Und das dritte Glück: Nur wenige Tage nach unserer »Flucht« sprengten ungarische Soldaten die Brücke von Andau in die Luft. (Später fragte ich meinen Vater, warum wir nicht frischweg auf der österreichischen Seite im Schilf gewartet und uns dort unter die Flüchtlinge gemischt hätten, es wäre auf das Gleiche hinausgelaufen, aber nicht gefährlich gewesen. – Das würden er und Mama als Betrug gesehen haben, antwortete er.)
    Vor den Vertretern des Roten Kreuzes sagten wir aus, wir hätten uns von einer Minute auf die nächste entschlossen zu fliehen, wir hätten alles zu Hause gelassen, auch unsere Papiere. Mama hatte mir eingeschärft, ich solle nicht reden, sondern nur starren; starren, wie ich damals gestarrt hätte. Man hat uns umarmt und uns Geld in die Tasche gesteckt. Mama und Papa trugen sich als Frau Dr. Elise-Marie und Herr Dr. Michael Philip und mich als Andres Philip ein.
     
    Zunächst brachte man uns im Flüchtlingslager Traiskirchen unter, Männer und Frauen getrennt, Papa und ich zusammen mit zwanzig anderen in einem Raum.

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