Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Geheimnisses zerstört! Diese Leidenschaft! Auf der Straße hätten sie sich geküsst, mit freier Sicht in alle Richtungen. Dass er nie so geküsst worden sei in seinem Leben. Und dass er sich gedacht habe, was habe ich sonst alles nicht gehabt in meinem Leben.
»Alles war zu wenig, habe ich gedacht, alles ist zu wenig. Immer alles zu wenig.«
Dass er aber heute nicht mehr so denke.
»Man kann nicht sein Leben nach dem ausrichten, was man eventuell – eventuell!! – im letzten Augenblick denken wird. Auf diesen letzten Augenblick ist gepfiffen, wenn das Leben davor ein Irrsinn war. Ein glücklicher letzter Augenblick gegen ein irrsinniges Leben – was soll das für ein Tausch sein? Die Wahrheit kann nur ein richtiges Leben sein. Ein rechtschaffenes Leben. Man kann ein Leben nicht auf einer Illusion aufbauen! Und schon gar nicht auf einer Lüge! Ein Leben dauert Millionen und Abermillionen Augenblicke. Ich will ein richtiges, ruhiges, geregeltes Leben haben, ein geregeltes Einkommen und eine ruhige, geregelte Karriere. Dafür will ich gern im letzten Augenblick jammern. Ein Augenblick dauert nicht lange. Weißt du, wie lange ein Augenblick dauert?«
»Ja.« Ich schloss die Augen, schlug sie auf und schloss sie wieder. »So lange.«
»Was bist du für ein lieber kleiner Mensch«, sagte er, und ich hörte seiner Stimme an, dass ihm wieder die Tränen herunterrannen, und ich dachte, diesmal gelten sie ihm selbst, wahrscheinlich haben sie nie mir gegolten. »Was bist du für ein lieber kleiner Mensch, András.«
»Ich heiße jetzt Andres.«
Ich saß auf dem Kanapee, das mit rotem Samt überzogen, in der Mitte eingesackt und an den Ecken abgewetzt war und das ich wirklich gut kannte und das sich freute, dass ich wieder hier saß. Herr Dr. Martin stand vor mir, die Unterseite seines Kinns verdeckte die Hälfte seines Gesichts.
»Muss ich ein schlechtes Gewissen haben?«, fragte er.
»Weiß nicht.«
»Weil ich die friedliche Seite der Schönheit will?«
»Weiß nicht.«
»Ich bildete mir ein, sie gibt mir alles, was sie hat. Aber sie gab mir gerade so viel, wie ich zu empfinden glaubte. Verstehst du den Unterschied?«
»Weiß nicht.«
»Sie hat in Wahrheit nichts gegeben, sie hat nur genommen. Verstehst du, dass ich mich gegen deine Moma zur Wehr setzen muss?«
»Ja.«
»Weil sie mich sonst auffressen würde?«
»Ja.«
»Würdest du das an meiner Stelle zulassen?«
»Nein.«
Er setzte sich neben mich auf das Sofa und erzählte die Geschichte von Momas Buch. Und ich zweifelte nicht einen Augenaufschlag lang an seiner Absicht, nämlich: dass ich Moma davon berichten sollte. Dass er mir das Versprechen abnahm, ihr nichts, nicht ein Wort über unser Gespräch zu melden, nahm ich als ein weiteres Indiz dafür, dass er genau das wollte. Auch er war ein Lügner. Und wie mancher Lügner glaubte er, nichts animiere einen mehr zur Lüge, als wenn man einen Schwur auf die Wahrheit leistet. Moma sollte wissen, dass er bereit war, ihr Geheimnis zu verraten. Dies war eine Drohung. Vielleicht eine Gegendrohung. Womit sie ihm drohte, wusste ich nicht.
Zu Hause erzählte ich Moma, dass ich Herrn Dr. Martin besucht hätte und dass er von mir verlangt habe, ich solle ihm die Hose aufknöpfen und seinen Penis in den Mund nehmen.
Daraufhin ruinierte Moma seine Karriere, seine Verlobung, sein Leben. Sein Versuch, Momas Autorschaft an ihrem Buch in Zweifel zu ziehen, wurde als besonders niederträchtig bezeichnet.
10
Es gibt gerade unter Geistesmenschen nicht wenige, die meinen, für die Lüge Partei ergreifen zu müssen, weil diese unter Umständen der Wahrheit, der wahren Wahrheit nämlich, mehr diene als die redlichste Abgleichung von Aussage und Tatsache. Ihr Argument ist bekannt: Jeder habe seinen eigenen Blick auf die Dinge, es könne bei Liebe und Kampf (den angeblichen Lieblingsbetätigungen des Menschen) keine Objektivität geben; also bestehe zwischen sogenannter Wahrheit und sogenannter Lüge lediglich ein Farbunterschied. Sie nennen als Zeugen Kurosawas Film Rashomon oder den weder von mir noch von ihnen gelesenen Don Quixote oder – erstaunlich selten – »die eigene Erfahrung«. Die Feinspitze dieser Schule treten sogar an, die Lüge zu veredeln, indem sie vorschlagen, die sie fassende Möglichkeitsform als Triumph des menschlichen Geistes über die Materie zu begreifen: Was ist, ist auch ohne uns; was hingegen sein könnte , ist es kraft innerer Zustimmung, also irgendwie sogar mehr. Andere
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