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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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ihr sagte, sie ekle ihn nur an.
    Herr Dr. Martin hatte sich nur satt machen wollen. Diesen Satz hörte ich immer wieder, immer wieder, geflüstert, geschrien, kalt ausgesprochen, zärtlich gehaucht, in Weinkrämpfen herausgewürgt. Sie sagte, sie will sterben. »Ich will sterben. Warum gibt mir niemand den Gnadenschuss? Ich werde nie von ihm loskommen! Ich werde nie wieder frei sein! András, komm her! Liebst du mich, András? Nimm das scharfe Fleischmesser, hau es mir ins Herz! Man wird dich nicht ins Gefängnis sperren, du bist ja noch ein Kind. Er hat sich nur satt machen wollen, und jetzt ist er satt. Er hat alle Freiheit aus mir herausgefressen. Die Freiheit wohnt im Herzen, András. Meines ist leer gefressen. Drum nimm das Messer, András, das scharfe! Es gibt nur eine Freiheit, die heißt Tod!«
    Darum habe ich mich von Döbling aus auf den Weg nach Hietzing gemacht, um mit Herrn Dr. Martin zu sprechen. Zu Fuß durch den Schneematsch bin ich gegangen. Wie der Büßer und Pilger, über den in einer Geschichte des Anonymus berichtet wird. Beten konnte ich nicht, nicht einen Wortlaut kannte ich. Ich bereitete mir eine Rede vor, während ich ging – wie der Büßer und Pilger seine Verteidigung vor dem Herrn –, schrieb mit klammen Fingern die Straßennamen in mein Notizbuch – Billrothstraße, Krottenbachstraße, Abzweigung zum Türkenschanz Park, Wattgasse durch Ottakring und Penzing bis nach Schönbrunn und auf der Linzerstraße nach Hietzing. Keiner in unserer Familie kannte Wien so gut wie ich. Ich sprach laut mit mir selbst, war einmal ich, einmal Herr Dr. Martin, einmal versuchte ich ihn, einmal versuchte er mich zu überzeugen. Ich hatte die besseren Argumente. In meinem Spiel gab er nach. Aber was das bedeutete, wusste ich nicht. Wie sollte er nachgeben? Indem er zu Moma zurückkehrte? Indem er irgendetwas unternahm, damit sie ihn nicht mehr so sehr liebte? Ich dachte, man kann dieses Problem mit Reden lösen; sie hat nur nicht richtig geredet mit ihm; sie hat nie richtig geredet mit ihm; er wird nur darauf warten, dass sie richtig mit ihm redet; und ich dachte, ich kann mit ihm reden, ich kann es besser als jeder andere aus unserer Familie. Meine Füße waren nass bis über die Knöchel, und meine Haare trieften, vom Himmel fielen Schnee und Regen, und ich hatte vergessen, meine Mütze mitzunehmen.
     
    Herr Dr. Martin war nicht zu Hause. Vom Stiegenhaus aus konnte ich in die Gärten sehen. Es war der gleiche Blick wie von der Küche aus, nur um ein paar Grad verschoben. Schnee lag. Keine Fußspuren waren zu sehen. Immer noch stand der Autoanhänger mit der blau lackierten Deichsel im Hof. Es tat mir leid, dass ich nur selten dort draußen gewesen war. Dass ich nie über die Mauer geklettert war, hinüber in den Park, wo der Ahornbaum mit dem gespaltenen Stamm wuchs. Ich mochte Schnee, ich mochte den Winter eigentlich lieber als den Sommer; erst vor kurzem hatte ich festgestellt, dass an einem sonnigen Wintertag die Schatten etwas Dunkelblaues an sich haben.
    Ich setzte mich auf die Stufen und wartete.
    Als er mich sah, kullerten ihm die Tränen heraus. Er nahm mich in die Arme. Sein Weinen galt mir, das merkte ich wohl. Es hätte auch sein können, er weinte, weil alles so gekommen war oder weil ihm manches leid tat. Aber er weinte aus Freude, weil er mich sah. Wenn ich irgendwann genügend Kraft habe, dachte ich, werde ich keine Umarmung mehr zulassen, nicht eine einzige, egal von wem; und niemandem würde ich erlauben, mir in die Haare zu fahren, sie gehörten mir.
    Er führte mich in die Küche und stellte uns Milch für eine Ovomaltine auf und rubbelte mit einem Handtuch meinen Kopf trocken, hängte meine Hose über das offene Backrohr, stopfte meine Schuhe mit Zeitungspapier aus und gab mir seinen Bademantel. Er sagte nichts, wischte sich immer wieder mit dem Ärmel übers Gesicht und schneuzte sich in sein Taschentuch. Er trug Sachen, die ich nicht kannte. Vornehme Sachen. Einen Anzug mit einer weinroten Weste darunter. Seine silberne Gürtelschnalle war seitlich verschoben. Er meinte, ich sei zu ihm gekommen, weil ich es zu Hause – das hieß für ihn: mit Moma – nicht mehr aushalte. Darum hatte er geweint: weil ich ihn als Exil gewählt hatte. Für zwei Stunden lang glaubte er, er könnte ein Freund in meinem Leben werden. Ein halbes Jahr zuvor hätte es mir gefallen. Er hätte mir beigebracht, wie man sich Sachen aus einem Buch abschreibt, die man sich merken möchte. Wer würde mir das

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