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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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gehandelt hatte! –, dass er Moma und Opa auf Knien um Vergebung gebeten und unsere Familie über Monate hinweg mit den leckersten Dingen versorgt hatte. Er hatte einen schwarzen breitkrempigen Hut auf dem Kopf und einen buschigen Vollbart im Gesicht, ebenfalls schwarz (wie ich annahm, gefärbt, denn seine Haare waren in Budapest blond gewesen), und eine getönte Brille mit dicken Rändern wie der Pandabär im Tiergarten von Schönbrunn. Weil ich mir bei diesem Menschen nicht vorstellen konnte, dass er zufällig hier stand, ich also dachte, dass er meinetwegen gekommen war, überquerte ich die Straße und ging direkt auf ihn zu. Er drehte sich um und schritt schnell davon. Aber ich lief hinter ihm her, und als er ebenfalls zu laufen begann, rannte ich, so schnell ich konnte, und erwischte ihn am Ärmel. Er riss mich an sich und packte mich an Nacken und Stirn. Wenn ich nur einen Laut von mir gäbe, breche er mir das Genick, zischte er – auf Ungarisch. Ich sagte – auf Deutsch: »Das glaube ich nicht.« Und ich hatte recht. Er fragte mich, woran ich ihn erkannt hätte. Ich antwortete – diesmal in unserer gemeinsamen Muttersprache –, an ihm selbst. Es dauerte eine Weile, bis er verstand; am Ende lachte er laut, und eine Frau, die uns gerade mit ihren Einkaufstauschen am Arm überholte, drehte sich zu uns um. Was ihn auf der Stelle verstummen ließ. Er zog mich neben einem Wirtshaus in die Einfahrt und postierte sich hinter mir, von draußen sollte man nur meinen Rücken sehen. Er war klein und ich für meine neuneinhalb Jahre groß; er duckte sich und blickte immer wieder an mir vorbei auf die Straße.
    »Du lügst«, sagte er. »Du hast mich beobachtet. Das ist der Name der Wahrheit. Wie sollte sie sonst heißen? Hast du mich gestern schon gesehen? Jemand hat dir gesagt, dass ich es bin. Wer hat dir das gesagt?«
    »Warum haben Sie sich die Haare gefärbt?«, fragte ich. »Und warum haben Sie sich einen Bart wachsen lassen?«
    »Und sonst noch Fragen? Was willst du von mir?« Er bemühte sich, gefährlich zu klingen. Aber er war nur ängstlich.
    »Gar nichts«, antwortete ich. »Ich frag nur. Es geht mich nichts an. Manche Männer haben einen Bart, manche keinen. Fragen darf man.«
    »Und warum bist du mir nachgelaufen?«
    »Ich weiß nicht. Weil ich Sie von Budapest her kenne. Ich treffe nicht oft Leute, die ich von Budapest her kenne. Und wenn einer läuft, läuft man automatisch hinterher.«
    »Läuft man automatisch hinterher? Tut man das? Ich weiß das nicht. Wo steht das geschrieben? Nirgends steht das geschrieben. Oder steht das irgendwo geschrieben? Hast du mit jemandem über mich gesprochen? Dass ich in Wien bin?«
    »Wie soll das gehen? Ich habe Sie erst vor fünf Minuten getroffen. Ich war in der Schule. Sie brauchen sich nicht den Kopf zu zerbrechen, niemand erkennt Sie.«
    »Du jedenfalls hast mich erkannt. Du meinst, weil du schlauer bist als die anderen?«
    Darauf antwortete ich nicht.
    Er fragte, ob ich schreien werde, wenn wir auf die Straße treten.
    »Nein.«
    Ob ich davonlaufen werde.
    »Nein.«
    Er streckte den Kopf aus der Einfahrt, schaute nach links und rechts. Es war Mittag, und kein Mensch war zu sehen. Wir überquerten die Gasse, weil drüben Schatten war, unsere Schuhe hinterließen Abdrücke auf dem weichen Asphalt. Major Hajós’ Stirn färbte sich rosa, Schweißperlen standen darauf, das Haar klebte an seinen Schläfen wie Entengefieder. Warum er die Jacke nicht ausziehe, fragte ich, und den Hut nicht abnehme. Er habe viel durchgemacht, sagte er, unsäglich viel. Ich solle ihm nicht böse sein, das Schaf sehe in allem den Wolf. Aber nun gehe es aufwärts. Er sei sehr einsam in Wien, schon seit über einem Jahr habe er mit niemandem gesprochen. Der Mensch werde unter dieser Last trübsinnig und misstrauisch. Und vor ein paar Tagen habe er mich zufällig auf der Straße gesehen, einen wie mich vergesse man nicht, das Herz sei ihm aufgegangen. Vor dem Einschlafen sage er das einzige Gedicht auf, das er kenne, nur um ein bisschen Zwiesprache zu halten.
    »Kennst du Dániel Berzsenyi? Hast du von ihm in der Schule gelernt? Nicht in der österreichischen Schule, in der ungarischen Schule, meine ich. Den Einsiedler von Nikla! Was ist das! Was ist das mit euch! Unseren größten Dichter! Ich bin in Nikla geboren. Ich werde Nikla nie wiedersehen. Ist mir auch egal. Ist mir nicht egal. Ist mir egal. Hervad már ligetünk, s díszei hullanak. Tarlott bokrai közt sárga levél zörög.

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