Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
im Leben beibringen? Er wäre mit mir durch die Stadt von Denkmal zu Denkmal gegangen und hätte mir die entsprechenden Geschichten erzählt; später hätte er mir das Autofahren gezeigt; ich hätte von ihm Ägyptisch und mit ihm Russisch gelernt und Englisch und Französisch dazu und Geometrie.
    »Wir haben uns viel zu selten miteinander beschäftigt«, sagte er nun. Wir wärmten unsere Hände an der Tasse und sahen einander an. »Wenn das alles längst vorbei sein wird, werde ich an diese Monate zurückdenken als an die Zeit, als ich András kennen gelernt habe.«
    »Andres. Jetzt Andres.«
    »Es wäre schön, wenn wir beide weiter in Kontakt blieben. Ich würde mir das sehr wünschen. Du auch?«
    »Ja.«
    »Bist du inzwischen in der Schule?«
    »Nein.«
    »Nein? Nein! Es ist ein Verbrechen, nicht alles zu unternehmen, um jemanden wie dich zu fördern. Das denkst du doch auch, oder?«
    »Weiß nicht.«
    »Natürlich denkst du das. Du bist gescheiter als wir alle miteinander.«
    Er konnte nicht sitzen bleiben, er war viel zu aufgeregt. Mit der Tasse in der Hand ging er durch seine Küche, die blitzblank aufgeräumt war (keine Erinnerung an uns). Nicht ich hielt ihm eine Rede, sondern er mir – oder eher er sich selbst, denn er nahm keine Rücksicht darauf, dass ich ein Kind war, von dem unmöglich erwartet werden durfte, dass es alle Worte kannte, die er verwendete. Dass er viel über uns nachgedacht habe, sagte er, über Moma, Mama, Papa, und auch viel über sich selbst nachgedacht habe. Dass er nie etwas Ähnliches erlebt habe wie im letzten halben Jahr. Dass ein anderer Mensch aus ihm geworden sei.
    »Und das wusste ich am ersten Abend schon. Nein, schon als ich euch im Institut gesehen habe, wusste ich, wenn ich mich auf diese Menschen einlasse, wird ein anderer Mensch aus mir werden. Ich wusste, ihr werdet alle Hölzchen meines Lebensmodells durcheinanderwirbeln. Kannst du dir das vorstellen?«
    »Weiß nicht.«
    »Und ich war einverstanden damit! Das ist es ja! Ich war einverstanden gewesen! Angst hatte ich vor etwas anderem gehabt. Angst hatte ich vor dem normierten termitenhaften Dasein gehabt, in das ich hineinzurutschen drohte. Ich bin vierzig. Vierzig! Ich habe die Universität praktisch nie verlassen. Ich war nie im Ausland, außer zweimal in Ägypten. Und was habe ich dort erlebt? Ich war zusammen mit Ägyptologen in einem Kongresshaus und zusammen mit Ägyptologen im Hotel. Und was habe ich mit ihnen gesprochen? Genau das Gleiche, was ich mit meinen Kollegen und Kolleginnen und meinen Studenten im Institut bespreche. Was werde ich mir im letzten Atemzug vorwerfen? Sollte man sich diese Frage nicht in jedem Augenblick des Lebens stellen? Nicht erst am Schluss? Was meinst du?«
    »Weiß nicht.«
    »Doch, das sollte man! So habe ich gedacht. Und was wird die Antwort auf diese Frage sein?«
    »Weiß nicht.«
    »Die Antwort wird sein: Du hast zu wenig gelebt! Du lebst zu wenig. Immer und auf alle Fälle wird die Antwort sein: Du hast zu wenig gelebt! Ich will dir eine Geschichte erzählen. Und du sollst mir sagen, ob ich richtig oder falsch gehandelt habe. Ob ich richtig oder falsch handle. Wozu du mir rätst, das werde ich tun.«
    Er hielt ein Selbstgespräch, sprach mit selbstgefälliger Feierlichkeit, erzählte sich selbst von sich selbst und brauchte dazu mich, um sich gnädigerweise einbilden zu dürfen, eines dieser Selbste sei nicht er, sondern ein anderer. Und genauso mühsam erzählte er. Er bewegte die Hände, als würde er etwas Kleines auspacken. Und in dem Kleinen war ein noch Kleineres, das er ebenfalls auspackte. Und so weiter. Am meisten langweilte ich mich, wenn er nach ausgefallenen Worten und Wendungen suchte; und dass er danach suchte, um mir zu imponieren, machte die Langeweile nicht erträglicher. Er spielte seine Bewunderung für sich selbst mir zu und erwartete, dass ich sie an ihn zurückspielte. Wie konnte dieser Mensch nur so schlecht erzählen! Er konnte nicht ums Verrecken zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem unterscheiden. Dass sie – Moma und er – schon am ersten Abend, als sie auf dem Weg vom Krankenhaus nach Hause waren, nicht hätten aufhören können, sich zu küssen. Folgendes habe er gesagt: Lass uns gemeinsam eine Vergangenheit schaffen, die der Erinnerung wert ist! Diese Leidenschaft! An jeder Ecke. Mitten auf dem Gehsteig. Nicht einmal unter einen Baum hätten sie sich gestellt. Folgendes habe er gesagt: Lassen wir es nicht zu, dass irgendetwas den Reiz dieses

Weitere Kostenlose Bücher