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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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definieren politisch und behaupten, was Wahrheit genannt werde und was Lüge, unterscheide den, der Macht habe, von dem, der keine habe – in der Welt, im Staat, im Betrieb, in der Familie, im Bett. Über die Strecke eines Gesprächs sind die einen wie die anderen zufrieden, im Bösen das Gute entdeckt zu haben. Sie verfügen über einen differenzierenden Geist, darum sind sie Geistesmenschen. Man braucht sie nicht anzulügen, sie tun es selbst – ihnen zuzustimmen genügt. Sie sind im Aussterben begriffen. Sie haben die Präambel nicht kapiert: Der Lügner muss zu sich selbst ehrlich sein, sonst geht er unter.
    Die Männer, mit denen ich manchmal Bier trinke, haben keine Ahnung von mir, weil sie keine Ahnung haben wollen, und sie wollen keine Ahnung von mir haben, weil es für ihr Leben nicht dringlich ist. Das ist mir angenehm. Wenn wir in der Nacht auseinandergehen, ist einer dem anderen keines weiteren Gedankens mehr wert. In Abwesenheit bin ich für sie »der Joe«, habe ich mir sagen lassen; wenn sie sich mit mir unterhalten, nennen sie mich respektvoll Sie und »Joel« oder »Herr Spazierer«.
    Wenigstens einer von ihnen hat Geld, ein Bauunternehmer; sehr viel Geld, muss ich annehmen, denn er verpulvert es in Rumänien, Russland, Afrika bei der Jagd auf Wölfe, Bären, Zebras. Seine Frau will Schriftstellerin werden. Ich habe erzählt, dass ich mit einem Schriftsteller befreundet bin und dass er mich animiere, ein Buch zu schreiben, da hat er »zugegeben«, seine Frau möchte auch eines schreiben. So sind wir auf das Thema gekommen. Er ist ein Zyniker, der in den menschlichen Niederlagen einzig und allein schlechtes Theater sieht – und ein geschickter Lügner ist er auch. Er tut vor uns, als wäre er von seiner Frau, ihren Ideen, ihrem Roman (von dem es erst den Titel gibt: Die Katzen von Castiglione della Pescaia ) begeistert; lässt uns aber durch dieselben Worte merken, dass diese Begeisterung in Wahrheit Sorge sei, ein Gut-Zureden eigentlich, ein loyales Mithelfen beim nutzlosen Versuch, auf diesem aufgeweichten Boden Selbstbewusstsein zu errichten – und sagt damit ein Dreifaches. Erstens: Ich glaube nicht eine Sekunde an ihren Roman, an ihre Ideen, an sie. Zweitens: Ihr dürft ruhig wissen, was ich in wahrer Wahrheit von meiner Frau halte, aber ihr sollt es selber herausfinden, damit ich meine Niedertracht euch anhängen kann. Drittens: Ich stehe trotz allem zu meiner Frau. Wobei ich vermute, dass dieses unausgesprochene und nur von uns zu denkende trotz allem das Kernstück seiner Welt- und Menschanschauung darstellt, die wiederum folgendermaßen lauten könnte: Ich bin der Überzeugung, dass alle gleich sind, und ich kann nichts dafür, wenn sie es nicht sind, will aber meinen Glauben, auch zum Preis der Selbstbeschädigung, aufrechterhalten, weil ich nämlich Humanist bin – Beweis: Ich schieße nur auf Tiere. Als wir uns darüber unterhielten, womit ich mein Buch beginnen solle, und die Runde mir riet, auf alle Fälle mit etwas Lustigem, sagte ich, ohne den Großwildjäger aus dem Visier zu lassen: »Ein Mann erschießt seine Frau, weil er ihre Minderwertigkeitskomplexe nicht mehr länger erträgt. Was halten Sie davon?« – Wir lachten; er auch. Alle waren wir der Meinung, es wäre ein gelungener Anfang für einen Roman, wenn jemand jemanden in einem lustigen Zusammenhang erschießt. Jeder hat eine Szene beigesteuert. Die mir die lustigste erschien, habe ich in den Anfang genommen.
     
    Einmal hörte ich jemanden sagen: Wir verlieren unsere Unschuld in dem Moment, in dem wir begreifen, dass uns nicht alle Welt liebt. Ich habe sofort verstanden, was er meinte, und wusste, ich habe meine Unschuld bis heute nicht verloren und würde sie nie verlieren.

DRITTES KAPITEL
     

1
     
    Eine Woche vor den Sommerferien 1958 – es war am Freitag, den 4. Juli (ich habe ein amtliches Dokument mit diesem Datum vor mir) – sah ich, als ich aus der Schule trat, auf der anderen Straßenseite einen Mann stehen, an dem mir nichts bekannt vorkam – nichts bis auf die Bewegung, mit der er die Zigarette zum Mund führte, die Bewegung, mit der er die Asche weit vom Körper abklopfte, und die Art, wie er den Rauch seitwärts ausblies. Ich wusste, es war Major György Hajós, jener ÁVH-Offizier, der meinen Opa in der Budapester Stalinstraße verhört und anschließend den Folterknechten übergeben hatte und hinterher so beschämt darüber gewesen war – wo es sich obendrein um »ein närrisches Versehen«

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