Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Zehen in den rot-grün gerauteten Socken aufgerichtet; weder zum Weglaufen noch zum Nachlaufen waren diese Füße geeignet. Vom Wasser her wehte ein angenehmer Wind, ich fischte die Zitronenscheibe aus meinem Limonadenglas, rieb mir die Finger damit ein und roch daran. Möwen und Tauben ließen sich von den Gästen mit Krümeln füttern. Spatzen nahmen ungeniert zwischen den Sesseln und Tischchen ihre Staubbäder. Mitten auf dem Platz stand eine Krähe. Sie war anmutig und unbekümmert und über alle anderen Vögel erhaben; ein Krähenreiter sollte man sein, dann ginge es dahin.
Irgendwann sagte Major Hajós: »Die Pistole war nicht geladen, sie war kaputt, der Hahn war gebrochen. Ich habe sie in Wien durch einen Kanaldeckel geschickt, jetzt schrecken sich die Ratten.« Er zog aus der Gesäßtasche den Pass von József Rigó. »Und noch etwas wolltest du wissen, habe ich recht? Den hier, mit dem ich mein Geld abgehoben habe, den habe ich in meiner Arschfalte versteckt. Nicht gelogen! Riech dran! Da siehst du, wie gut es sein kann, einen fetten Arsch zu haben von den vielen Süßigkeiten. Der grausame, aber gerechte Weltgeist hat mir den Speck an der rechten Stelle wachsen lassen. Nichts auf der Welt ist nur schlecht, ich auch nicht, Robi.«
»Jetzt wieder Andres«, sagte ich.
»Morgen wird mir mein Ticket zugestellt und die erwähnten Kleinigkeiten, um die der Mensch nicht herumkommt, wenn er sich in der Freiheit etablieren möchte. Willst du mit mir kommen nach Amerika? Musst mir nicht gleich antworten. Schlaf eine Nacht darüber, mein kleiner Freund. Wir beide würden in die Staaten passen, das weiß ich. Ich würde alles tun, damit ein großer Mann aus dir wird. Immer fröhlich gelaunt im weiten Land, das fördert einen jungen Menschen. Schlaf eine Nacht darüber. Morgen frage ich dich wieder.«
Er stand auf, was ihm Mühe kostete, quetschte den Rest seines Schokoladenkuchens zwischen die Seiten des Passes, ging in Socken über den Platz und schob József Rigó, der vor den sowjetischen Panzern aus Ungarn geflohen war, durch den Kanaldeckel.
Am nächsten Tag fragte er mich noch einmal.
Nachdem wir uns die Stadt angesehen hatten und in ein Gasthaus und ein Kaffeehaus eingekehrt waren, hatte er sich zwei Anzüge gekauft und zwei neue Koffer und Hemden und Schuhe und Stapel von Socken, Unterwäsche und Pullover, ein Taschenschachspiel und Zigaretten und Schokolade, die belgische sei die beste der Welt. Wir standen an der Straße, die zum Hafen führte, um uns herum junge Lindenbäume, einen Koffer trug er, einen ich. Seinen alten hatte er zwischen den Segelbooten ins Wasser geworfen.
»Wir haben genügend Zeit, um auch für dich etwas Schönes zu kaufen«, sagte er. »Der Sohn soll nicht weniger Garderobe besitzen als der Vater.«
Ich sagte: »Nein.«
Da nahm er mir den Koffer ab, drehte sich um und war davon. Er hat mir kein Geld gegeben, wie er versprochen hatte. Er hat mir keine Retourfahrkarte nach Wien gekauft, wie er versprochen hatte. Er ging und drehte sich nicht mehr nach mir um.
Ich war froh, dass er weg war. Sehr froh war ich, dass er weg war!
Da stand ich und war frei. Neuneinhalb Jahre alt war ich. Und war frei.
In der Nacht hatte mich Major Hajós geweckt, wir schliefen zusammen in einem Doppelbett, er hatte Angst. Er hat geweint. Er weinte ins Kopfkissen hinein, die Knie angezogen, den Hintern in die Luft gestreckt. Ab morgen, sagte er – flüsterte er, auch traute er sich nicht, das Licht anzuschalten –, ab morgen werde er ein anderer sein. Ob ich glaube, ein Mann könne von einem Tag auf den anderen ein anderer sein. Ich antwortete, das wisse ich nicht, ich sei ja noch kein Mann. Er habe solche Angst, ein anderer zu werden. Wenn man einmal ein anderer werde, schniefte er, könne man dieser andere nicht lange bleiben, bald müsse man ein dritter anderer werden und so weiter und so weiter. Er wisse das. Wenn einer das wisse, dann er. Man ist nicht, der man ist, sondern der Darsteller dessen, der man sein möchte, und wenn das nicht gelingt, gibt es kein Zurück. Hu, hu! Versuchen Sie doch zu schlafen, Major Hajós, sagte ich. Er könne nicht schlafen. Ob ich ihm nicht eine Gutenachtgeschichte erzählen wolle. Ich sagte, ich wisse keine. Ob er mir eine Gutenachtgeschichte erzählen dürfe. Was für eine Gutenachtgeschichte denn, fragte ich. Ein Märchen, sagte er, aber ein wahres Märchen. Wenn es unbedingt sein muss, sagte ich. Ja, es muss unbedingt sein, sagte er, und da war seine
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