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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Pflichtbewusstsein in meine Stimme und meinen Blick. Die beiden Beamten würden uns nichts tun. Aber den Koffer wollten sie kontrollieren. Major Hajós und ich fuchtelten uns wieder gegenseitig mit den Händen vor dem Gesicht herum, er gab dazu würgende Laute von sich, das machte Eindruck. Im Koffer war seine Aktenmappe und darin seine Brieftasche und darin ein sehr dickes Bündel Geld – Schilling, D-Mark, Dollar. Darüber wollten sie mehr wissen. Ich sagte, mein Vater und ich besuchten in Frankfurt meinen Onkel – während ich sprach, überlegte ich, ob ich erzählen sollte, der Onkel sei krank am Herzen und mit dem Geld werde seine Operation bezahlt, dachte aber gleichzeitig: Ich, wäre ich an der Stelle der Beamten, würde diese Geschichte nicht glauben, und fuhr fort: »Mein Onkel hat ein amerikanisches Auto für uns gekauft, das holen wir ab, einen Teil bezahlen wir in Dollar, einen Teil in D-Mark, einen Teil in Schilling.« Ob mein Vater das Auto von Frankfurt nach Wien überstelle, fragte einer der Beamten, und beinahe wäre ich in die Falle getappt. »Nein, ich«, rief ich und lachte, und sie lachten mit, und Major Hajós lachte auch, und sie strichen mir über die Haare, alle drei. Und das war’s.
    In Frankfurt übernachteten wir in einem Hotel in der Nähe vom Bahnhof, und am nächsten Tag fuhren wir nach Trier. In Trier aßen wir Schweinebraten mit einem Kloß und Blaukraut, Major Hajós zum Nachtisch zwei Kirschkuchen. Am frühen Nachmittag stiegen wir in einen Bummelzug, und in dem ging’s weiter nach Luxemburg. Major Hajós trampelte hinter mir her durch die Waggons, hielt mich am Ärmel fest; ich kam mir vor, als würde ich ihn am Narrenseil führen. Den Zöllnern erzählte ich wieder irgendeine Geschichte, die habe ich aber vergessen, und Major Hajós und ich fuchtelten uns dabei gegenseitig vor dem Gesicht herum; den Koffer verlangten sie nicht zu sehen. Major Hajós war sehr zufrieden mit mir. Als wir wieder allein waren, fragte ich ihn, ob er seine Pistole dabeihabe. Er gab mir keine Antwort, lächelte auch nicht hinterhältig, womit ich gerechnet hatte. Er tat, als ob er wirklich taubstumm wäre. Ein zweites Mal fragte ich nicht.
    In Luxemburg hob er bei einer Bank Geld ab. Er sagte mir nicht wie viel; ich vermutete, es war sehr viel; er musste seinen Pass zeigen. Das tat er und redete dabei mit dem Herrn am Schalter, der konnte Deutsch, ich übersetzte und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus: Major Hajós war nicht mehr Helmut Rosenberger; sein Pass war nicht unserer, sondern ein ungarischer, den er die ganze Zeit irgendwo versteckt hatte – wahrscheinlich dort, wo er auch seine Pistole versteckte –, und fragte lieber nicht. Er war nun József Rigó, der im Herbst 1956 vor den sowjetischen Panzern aus Ungarn geflohen war. Von nun an war er auch nicht mehr taubstumm. Er brauche mich aber noch, sagte er, er könne nicht nur nicht Deutsch, sondern auch nicht Französisch sprechen und Englisch gerade einmal fünfundvierzig Worte, wenn er sich nicht verzählt habe; bei den Belgiern aber gebe es einige, die Deutsch könnten, aus welchen Gründen auch immer, deshalb brauche er mich noch ein Stück weiter als Dolmetscher.
    »Ungarisch ist eine traurige Sprache«, sagte er, und ich verstand, was er meinte: Ein Ungar in der Welt ist ein einsamer Genosse.
     
    Am dritten Tag unserer Reise kamen wir endlich in Oostende an. Wir hätten einen Tag nur für uns, sagte Major Hajós; ich dürfe mir aussuchen, wie wir diesen Tag verbringen. Das war klar für mich: Ich wollte das Meer sehen. Wir spazierten zu Fuß an den Strand, es war nicht weit.
    Das Meer war schön, es machte mich nicht nervös, aber auch nicht glücklich. Major Hajós vermutete, es sehe überall auf der Welt ähnlich aus, es sei eben Wasser und sonst nichts. Wir gingen in die Stadt zurück, Major Hajós drängte von einem Geschäft in das nächste, hatte die Fäuste voll Papiergeld, kaufte aber nichts, prüfte nur. Später setzten wir uns im Hafen vor ein Café und aßen Schinkenbrot und Käsebrot und tranken Bier und Limonade, und Major Hajós aß einen Schokoladenkuchen, und wir schauten auf die großen Schiffe. Was wäre das Meer ohne die Schiffe.
    Wir saßen und schwiegen und lauschten auf die Möwen und die Menschen mit ihren Sprachen, als hätte jeder seine eigene. Ich betrachtete Major Hajós’ kleine gekreuzten Füße unter dem Tischchen, er war aus den Schuhen geschlüpft. So harmlos sahen sie aus, ungelenk, die großen

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