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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Flüssigkeiten ab. Wurde zuletzt grob, sehr grob und zynisch. Als er gegangen war, waren sich Moma und Opa einig, dieser Mann sei jederzeit in der Lage, aus der vernünftigsten und menschlichsten Sache Dummheit und Brutalität herauszupräparieren. Die vielen Verhöre hätten ihn für alle Zeiten und für alle Welt verdorben, sagte Moma, er sei nach Worten und Silben süchtig wie der Hamster nach dem Rad.
    Ich hielt die Taschenlampe auf ihn und sah mir sein feistes, käsiges Gesicht an, das zwischen den Jackenaufschlägen versunken war, sah durch seine Verzweiflung hindurch und seine Angst hindurch, durch seinen erbarmungswürdigen Scharfsinn und seine Grausamkeit und meinte, etwas zu entdecken, das tiefer lag als seine Tränen und Albträume: das Zwinkern eines pedantischen Schelms – so geht’s, siehst du, so wird’s gemacht, fürchte dich nicht vor meinen Schmerzen, fürchte dich nicht vor deinen Schmerzen, ich bin bei dir, und du bist bei mir … –, und das war das Hässlichste, was ich je gesehen hatte: eine Lüge ohne Sinn und Ziel und Zweck.
    Ich sagte: »Beruhigen Sie sich doch, Herr Hajós! Rauchen Sie eine Zigarette, bitte! Bitte, beruhigen Sie sich! In zwei Stunden habe ich eingekauft. Dann komme ich zurück. Dann ziehen wir uns um. Dann gehen wir zum Westbahnhof. Sie gehen auf der einen Seite der Straße, ich auf der anderen Seite. Dann sehen wir uns immer, aber kein Mensch denkt sich, die gehören zusammen. Ist das eine Idee? Den Westbahnhof kenne ich auswendig. Ich kenne auch viele Züge. Um Mitternacht fährt einer nach Frankfurt. Das liegt in Deutschland.«
    Um Mitternacht saßen wir im Zug nach Frankfurt am Main; Major Hajós in einem hellgrauen Zweireiher und hellgrauen lackierten Schlüpfschuhen, ich in einem weißen Leinenanzug und einer beigen Krawatte mit umbrafarbenen Querstreifen, dazu ein weißes Hemd und weiße Segeltuchschuhe. Auch einen Strohhut habe ich spendiert bekommen. – Sebastian, du hättest mich sehen sollen! Wie ein kleiner Lord sah ich aus.
     
    Im Speisewagen gab es leider nur Würstchen zu essen und nicht mehr den Zwiebelrostbraten, der auf der Speisekarte stand; außerdem war es stickig und heiß, und wenn man das Fenster herunterließ, drang der Qualm der Lokomotive herein. Major Hajós war schon drauf und dran, sich zu empören, schließlich besaßen wir Fahrkarten erster Klasse. Ich hatte inzwischen gelernt, in seinem Gesicht zu lesen, die Wut erkannte ich darin, ehe sie ausbrach. Schnell nahm ich seinen Kopf in meine Arme, als wäre er mein lieber Vater, und streichelte über seinen Rücken und flüsterte ihm ins Ohr, ob er denn um Himmels willen vergessen habe, dass er taubstumm sei. Der Kellner starrte uns an und wartete auf die Bestellung. Ich konnte mir nicht denken, dass er einer von unseren Feinden war. Ich vollführte mit den Händen Phantasiegebärden vor Major Hajós’ Gesicht, wie wir es uns ausgemacht hatten, weil Taubstumme angeblich auf diese Art miteinander sprechen; er gestikulierte zurück, und ich sagte: »Zweimal Frankfurter Würstchen mit Kren und Senf, ein Bier für meinen Vater und eine Limonade für mich.«
     

4
     
    Nichts reden zu dürfen, war für Major Hajós ein Fluch. Ihm war von Berufs wegen das letzte Wort garantiert gewesen; ihm war von Berufs wegen freigestanden, Nasen, Lippen und Zähne zu zerschlagen, wenn ihm etwas nicht passte; und wenn er in Ausübung seines Berufes schwieg, konnte das sehr viel heißen, und seine Untergebenen waren aufgerufen, sein Schweigen zu interpretieren. Nun musste er den Mund halten, und ein neuneinhalbjähriger Knabe, Enkel eines Mannes, den zu foltern er seinen Untergebenen Befehl gegeben hatte, sorgte dafür, dass er ihn auch tatsächlich hielt.
    Gegen fünf Uhr morgens wurde an die Tür unseres Schlafwagenabteils geklopft. Wir waren im Bahnhof Salzburg, die Zöllner gingen durch den Zug und kontrollierten Papiere und Gepäck. Ich lag in der oberen Liege, war in Unterhosen und Unterhemd, hatte geschlafen im Takt der Räder und Schienen und wusste im ersten Moment gar nichts. Major Hajós stand neben den Stockbetten, stramm, bleich und stumm in einer Rasierwasserwolke, das Haar zu einer herzzerreißenden Tolle über die Mitte gekämmt, unseren Pass in seinen Händen. Ich sprang herunter, öffnete die Tür und sagte zu den beiden Beamten, mein Vater könne nicht sprechen und er könne auch nicht hören, reichte ihnen den Pass und deutete auf die Eintragung unter seinem Namen. Ich legte Tapferkeit und

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