Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Stimme auch schon wieder fest und böse geworden. Und dann erzählte er mir das Märchen von dem Mann, der viele war, weil er einmal ein anderer geworden ist, am Ende aber doch nur eine Kugel abgekriegt hat. Das Märchen habe ich mir gemerkt, obwohl ich bis heute nicht sicher bin, ob es mir Major Hajós tatsächlich erzählt hat oder ob ich es geträumt habe; dass er vielleicht in dieser Nacht in meinen Traum gekrochen war und in meinem Traum ins Kissen geweint und in meinem Traum das Märchen erzählt hat … – Und weil der Bub, der ich mit neuneinhalb Jahren gewesen war, gerade so dasteht, mitten in Oostende, auf einer Straße, die von jungen Lindenbäumen gesäumt ist, frei, ohne Geld, ohne ein Stück Brot, und weil ihm im Augenblick rein gar nichts durch den Kopf geht, möchte ich, bis wieder Leben in ihn einkehrt, Major Hajós’ Märchen von dem Spaßmacher Karl Wiktorowitsch Pauker erzählen, der viele war, weil er einmal ein anderer geworden ist, am Ende aber doch nur eine Kugel abgekriegt hat.
Es war einmal ein Mann, der hieß Karl Wiktorowitsch Pauker. Er lebte in der Stadt Lemberg in Galizien. Er war Friseur, und es war ihm eine Freude, die Menschen nachzumachen. Wenn eine Frau die Haare sich frisieren oder ein Mann den Bart sich schneiden ließ, dann spielte er über den Spiegel nach, was der Kunde oder die Kundin vor ihnen gesagt hatte. Oder er spielte nach, wie Bürgermeister Adam Kilar am Sonntagvormittag über den Marienplatz stolzierte. Oder wie der berühmte Gelehrte Salomon Buber mitten auf der Straße überprüfte, ob die Buben den Hals gewaschen hatten. Oder wie Enni Rappaport, das stadtbekannte Kräuterweiblein, am Markt die verwelkten Blättchen von ihren Sträußchen abzupfte und dabei schimpfend ihren Speichel verteilte. Alle konnte er nachmachen, und niemand war ihm böse, wenn er von ihm nachgemacht wurde, denn er machte die Menschen im Nachmachen besser, als sie im Original waren.
Dann brach der Erste Weltkrieg aus, und Karl Wiktorowitsch Pauker wurde zur Armee eingezogen. An der Front machte er Freund und Feind nach und brachte Freude den einfachen Soldaten und den Offizieren. Er wurde gefangen genommen und nach Moskau verschleppt und nach dem Krieg von den Bolschewiki befreit – auf sein Wort hin, dass er sich ihnen anschließe, denn zu jener Zeit gab es wenig zu lachen, und das wenige kam von ihm. Nach dem Tod des Genossen Lenin wurde Karl Wiktorowitsch Pauker der Leibwächter von Josif Stalin.
Der Vater des Vaterlandes wollte den Friseur immer um sich haben, denn es gab immer noch nicht viel zu lachen, aber er lachte nun einmal gern, und Karl Wiktorowitsch sollte ihn zum Lachen bringen. Er schickte ihn zu den Prozessen und ließ sich nachspielen, wie Kamenew das Todesurteil aufgenommen hatte und wie Bucharin, wie Rykow, Radek, Pjatakow. Und Stalin lachte. Der Friseur machte nach, wie sich Sinowjew vor die Genossen des Erschießungskommandos auf den Boden geworfen, ihnen die Stiefel geküsst und wimmernd darum gebettelt habe, ihn mit seinem Freund Josif Wissarionowitsch telefonieren zu lassen, es könne sich doch nur um ein Missverständnis handeln, und wie er endlich Zuflucht genommen habe bei der alten jüdischen Klage Höre, Israel, unser Gott ist der einzige Gott … Barukh Schem Kawod, Malkhutho le’Olam va’Ed! – Stalin sei vor Lachen fast erstickt, und Karl Wiktorowitsch habe Erste Hilfe leisten müssen mit Herzmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung.
Aber dann kam alles heraus. Der Friseur, hieß es, plane heimlich Anschläge gegen hohe Herren der Partei und der Armee, er habe eine Technik des Witzes entwickelt, die nachweislich zum Totlachen führen könne. So leid es dem Vater des Vaterlandes tat, den Mann zu verlieren, der ihn in einer Zeit, in der es wenig zu lachen gab, zum Lachen gebracht hatte, unterschrieb er das Todesurteil gegen seinen Leibwächter und Narren.
Da stand ich also und dachte nichts. Dann hörte ich die Uhr schla-gen.
Ich schlenderte zum Strand hinunter; die Menschen, die mir begegneten, lächelten mir zu; die Möwen schrien und vollführten ihre eckigen Flüge; ich hörte die Schiffe tuten. Keine Wolke war am Himmel, die Sonne stand über dem Wasser; ich hatte weder Durst noch Hunger, und es juckte mich nicht an Stellen, wo ich nicht hinlangen konnte; es roch nach Meer, nach gebratenem Fisch und gebrannten Mandeln. Ich zog die Schuhe aus und ging barfuß über den Sand. Ich krempelte die Hosenbeine hoch und stellte mich ins Wasser.
Ich war
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