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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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»erzählen« nicht ganz das richtige Wort ist. Jetzt deutete er auf seine Brust, wie es Claudine am Strand von Oostende getan hatte, und sagte langsam: »Hiram. America. I am Hiram from America.« Das kriegte ich zusammen. Ich tat es ihm nach: »Andres. Andres Philip. Wien. Ich bin Andres Philip aus Wien.« Er kriegte es auch zusammen. »Andrew. Andrew Philip from Vienna. Corporal Andrew Philip, welcome to Nowhereland!« Wir konnten einander vom ersten Händedruck an gut leiden.
    Es ist erstaunlich, wie viel man erzählen kann, auch wenn einem nichts weiter als Hände, Füße, Grimassen und »Puff«, »Wow«, »Krrr«, »Boing«, »Patsch«, »Flutsch«, »Gluck-gluck«, »Zack«, »Päng« und ein paar Dutzend ähnlicher onomatopoetischer Laute zur Verfügung stehen, auf die man sich in dem Moment einigt, in dem man sie erfindet. So etwas kann nur der Mensch. Als das Gewitter vorüber war und die Sonne wieder brannte, hängte Staff Sergeant Winship meine nassen Sachen unten beim Bach in einen Strauch, seine legte er sorgfältig auf einen Stein. Wir schwammen in dem Loch unterhalb des Wasserfalls, und mir war, als kennten wir uns schon lange – was wahrscheinlich an meinem leeren Bauch lag; leere Bäuche reduzieren alles auf die Gegenwart, und wenn plötzlich ein Mensch vor einem steht, denkt man sich, der stand immer schon hier. Er konnte kein Wort meiner Sprache und ich nicht eines seiner.
    Er besaß einen Rucksack voll mit brauchbaren Dingen – unter anderem waren darin: Streichhölzer, ein flacher Kochtopf, ein Schlafsack, ein paar Sachen zum Wechseln, Nähzeug, Verbandszeug, ein Messer und eine Pistole, Salz und eine Landkarte, groß genug, um mich darin einzuwickeln. Essbares hatte er leider nichts dabei. Er schien sich nicht zu wundern, dass ein neuneinhalb Jahre alter Junge allein und barfuß in zerfetzter Hose und Hemd durch den Wald vagabundierte. Oder er hat sich doch gewundert und wollte nur nicht fragen. Ich denke, man hat mir inzwischen alles angesehen. Angst hatten wir beide keine, er nicht vor mir, ich nicht vor ihm und sonst auch keine. Ich hörte aus seiner Stimme heraus, dass er bereit war, sich um mich zu kümmern. Das genügte mir. Ich dachte, dieser Mann wird mich vielleicht nach Hause bringen.
    Oh, es wurde eine himmlische Nacht, und mir kam der Gedanke, ich sei in Wirklichkeit gestorben, vom Blitz erschlagen worden oder verhungert, und Staff Sergeant Winship sei einer der Engel, von denen in der Gesta Hungarorum des Anonymus berichtet wird und über die Opa gesagt hatte, ich solle erst gar nicht versuchen, sie mir vorzustellen, so anders als wir sähen sie aus. Staff Sergeant Winship sah auf jeden Fall anders aus als jeder Mensch, der mir bisher begegnet war. Er war groß, und sein Gesicht war so schwarz, dass ich mir, als wir in der Nacht vor der Hütte saßen, bisweilen einbildete, ich spreche mit einem weißen kurzärmeligen Unterhemd und einer khakifarbenen Hose.
    Die Nacht begann mit einem köstlichen Mahl, und dieses Mahl dauerte lange, sehr lange. Wie wir zu all den Delikatessen gekommen waren, ließ mich allerdings daran zweifeln, dass Staff Sergeant Winship tatsächlich ein Engel sein könnte.
    Dass Engel morden, war mir bekannt; dass sie an einer fremden Haustür klingeln, mit angedeuteter Waffengewalt eintreten und alles Essbare, was zu finden war, mitnehmen, davon hatte ich nie gehört. Genau das hat Staff Sergeant Winship getan.
    Aber von Anfang an: Nach dem Schwimmen hat er sich zunächst hübsch gemacht, hat sich rasiert, sein Uniformhemd angezogen, seine Uniformjacke, hat sich die Uniformkrawatte umgebunden und sein Käppi mit dem blau-weißen Abzeichen aufgesetzt. Unser Ziel war ein Dorf, es lag unterhalb des Berges, etwa eine Stunde zu Fuß von unserer Hütte entfernt. Wir konzentrierten uns auf das erste Haus; es stand abseits, war schmal, hatte ein steiles Dach, einen angebauten Schuppen und einen langen Gemüsegarten zum Weg hin. Staff Sergeant Winship deutete mir, ich solle mich hinter dem Zaun verstecken, aber genau beobachten, was jetzt gleich geschehe. Dazu zeigte er zweimal auf mich – das hieß »du«; legte die Zeigefinger auf seine Augen – das hieß »sehen«; und zeigte zweimal auf sich selbst – das hieß »ich«. Er schlenderte lässig durch den Garten, stellte sich breitbeinig vor der Haustür auf und zog an der Klingel. Ein Mann in Unterhemd und Unterhose öffnete. Im Inneren des Hauses brannte bereits Licht, draußen war’s im Westen noch hell. Staff

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