Die Abenteuer Des Jonathan Gullible
sich durch die Menge und entschloß sich, in der Ruhe der
Bibliothek Zuflucht zu suchen.
Kapitel 13 Gar nichts
Die Gebäude, die die Bibliothek umgaben, waren alle mindestens
zwei Stockwerke hoch und hatten beeindruckende Steinfassaden. Im
Eingang war eine ziemlich vornehme Gruppe zusammengekommen, die
geduldig wartete und den Streit nicht wahrnehmen wollte, der auf
dem Platz hinter ihnen wieder zunahm. Als Jonathan sich zu der
Gruppe gesellte, las er interessiert die schweren Bronzebuchstaben
über dem Eingang: LADY BESS TWEED VOLKSBIBLIOTHEK.
Weiter hinten verrenkten die Besucher ihre Hälse, um über die
Köpfe der weiter vorn stehenden zu schauen. Laut äußerten sie ihre
Bewunderung über das, was sie sahen.
»Großartig«, flüsterte jemand. »Phänomenal« sagten andere.
Jonathan war geschickt und dünn und preßte sich durch die
Ansammlung. Er kam zu einem Bibliothekarstisch hinter dem Eingang.
»Was findet diese Gruppe so großartig und phantastisch?« fragte er
den Mann, der hinter dem Tisch saß.
»Schhhh«, mahnte der Bibliothekar streng, »leise bitte.«
Der Mann schob die Ecken eines Stapels Karteikarten gerade und
legte sie sorgfältig vor sich auf den Tisch. Er beugte sich vor und
schaute Jonathan über seine Brillengläser hinweg an. »Dies sind die
Mitglieder der Ratskommission für die Kunst. Sie haben gerade eine
öffentliche Ausstellung mit der neuesten Anschaffung unserer
Kunstsammlung eröffnet.«
»Interessant«, sagte Jonathan mit gedämpfter Stimme. Er streckte
seinen Hals, um etwas zu sehen, und bemerkte: »Ich mag gute Kunst,
aber wo ist sie? Sie muß sehr klein sein.«
»Das kommt darauf an«, schniefte der Bibliothekar, »einige
würden sagen, sie ist sehr umfassend. Das ist die Schönheit des
Werkes. Es heißt ›Die Leere im Flug‹.«
»Aber ich sehe nichts«, sagte Jonathan und starrte auf die weiße
Wand über dem Eingang.
»Das ist es ja. Beeindruckend, nicht wahr?« Der Bibliothekar
blickte mit einem leeren, verträumten Ausdruck in die Luft. »Nichts
vermittelt die volle Bedeutung des Geistes des menschlichen Kampfes
um diesen erhobenen Grad des Bewußtseins, den man nur fühlt, wenn
man die volle Wärme der zarten Farben dem greifbaren Bewußtsein
unserer inneren Natur gegenüberstellt. Nichts erlaubt jedem, das
beste seiner Vorstellungskraft zu erfahren.«
Jonathan schüttelte berauscht den Kopf und fragte irritiert:
»Also ist es wirklich nichts? Wie kann nichts Kunst sein?«
»Das ist es gerade, das es zum höchsten Ausdruck der Kunst der
Gleichheit macht. Die Ratskommission für die Kunst veranstaltet
eine geschmackvoll ausgeführte Lotterie, um ihre Entscheidung zu
treffen«, sagte der Bibliothekar.
»Eine Lotterie, um Kunst auszuwählen?« fragte Jonathan voller
Erstaunen. »Warum denn eine Lotterie?«
»Früher traf ein ernannter Kunstausschuß die Entscheidungen«,
antwortete der Mann. »Zuerst wurde der Ausschuß kritisiert, daß er
seinen eigenen Geschmack favorisiere oder den seiner Freunde. Dann
wurden sie beschuldigt, die Kunst, die sie nicht mochten, zu
zensieren. Da die normalen Bürger für die Vorlieben des Ausschusses
mit ihren Steuern bezahlen mußten, protestierten sie gegen dieses
Vorgehen.«
»Und wenn man einen anderen Ausschuß eingesetzt hätte?« schlug
Jonathan vor.
»Ja, das hat man mehrmals versucht. Aber die, die nicht im
Ausschuß saßen, stimmten niemals mit denen im Ausschuß überein.
Deshalb ließen sie schließlich die ganze Idee eines Ausschusses
fallen. Alle waren sich einig, daß eine Lotterie die einzige
objektive subjektive Methode war. Jeder konnte am Wettbewerb
teilnehmen - fast jeder tat es auch. Der Hohe Rat setzte einen sehr
großzügigen Preis aus und jedes Werk war qualifiziert. ›Die Leere
im Flug‹ gewann heute morgen die Ziehung.«
Jonathan unterbrach ihn: »Aber warum läßt man nicht jeden seine
eigene Kunst kaufen, statt Steuern zu erheben, um eine Lotterie zu
bezahlen? Dann könnte sich jeder aussuchen, was er will.«
»Was?« rief der Bibliothekar aus. »Einige Egoisten würden gar
nichts kaufen und andere könnten einen schlechten Geschmack haben.
Nein, wirklich, der Hohe Rat muß die Kunst unterstützen!«
Er richtete seinen Blick zurück auf ›Die Leere im Flug‹,
verschränkte seine Arme und sein Gesicht nahm einen verschwommenen
Ausdruck an. »Eine gute Wahl, nicht wahr? Die Leere hat den
Vorteil, daß der Bibliothekseingang frei bleibt und dazu noch die
Umwelt geschont wird.
Und außerdem«,
Weitere Kostenlose Bücher