Die Abenteuer des Sherlock Holmes Bd.1
zerknitterten Brief zu.
Das Schreiben war am vorangegangenen Abend am Montague Place abgeschickt worden und hatte folgenden Inhalt:
›Lieber Mr. Holmes,
Mir liegt sehr daran, Ihren Rat in der Frage einzuholen, ob ich eine mir angebotene Stellung als Gouvernante antreten soll oder nicht. Ich werde morgen halb elf zu Ihnen kommen, wenn Sie es nicht als Belästigung empfinden.
Mit Hochachtung
Violet Hunter.‹
»Kennen Sie die junge Dame?« fragte ich.
»Nein.«
»Es ist halb elf.«
»Ja, und ich zweifle nicht, daß sie jetzt da klingelt.«
»Vielleicht wird die Angelegenheit viel interessanter, als Sie denken. Sie erinnern sich, die Affäre mit dem blauen Karfunkel sah anfangs nur nach einer Laune aus und entwickelte sich dann doch zu einer ernsthaften Untersuchung. Vielleicht ist es jetzt auch so.«
»Nun, hoffen wir es! Aber unsere Zweifel werden bald behoben sein, denn hier, wenn ich nicht irre, ist schon die fragliche Person.«
Indem wurde die Tür geöffnet, und eine junge Dame betrat das Zimmer. Sie war einfach, aber geschmackvoll gekleidet, hatte ein offenes, lebhaftes Gesicht, das gefleckt war wie das Ei eines Regenpfeifers, und wirkte in ihrem Auftreten entschieden wie alle Frauen, die ihren eigenen Weg durch die Welt gehen.
»Sie werden mir sicher die Belästigung verzeihen«, sagte sie, als mein Gefährte sich zu ihrer Begrüßung erhob, »aber mir ist ein sehr seltsames Erlebnis begegnet, und da ich keine Eltern und Verwandte besitze, die ich um Rat fragen könnte, dachte ich mir, Sie wären vielleicht freundlicherweise bereit, mir zu sagen, wie ich mich verhalten soll.«
»Bitte, setzen Sie sich, Miss Hunter. Ich schätze mich glücklich, das in meinen Kräften Stehende für Sie tun zu können.«
Mir fiel auf, daß Holmes vom Auftreten und der Redeweise seiner neuen Klientin beeindruckt war. Er betrachtete sie forschend und sammelte sich dann, um ihrer Geschichte zuzuhören, indem er die Lider senkte und die Fingerspitzen gegeneinanderlegte.
»Ich war fünf Jahre lang Gouvernante in der Familie von Colonel Spence Munro«, sagte sie. »Doch vor zwei Monaten folgte der Colonel einem Ruf nach Halifax in Nova Scotia und nahm seine Kinder mit nach Amerika, so daß ich ohne Anstellung dastand. Ich annoncierte und beantwortete Annoncen, aber ohne Erfolg. Die kleine Summe, die ich gespart hatte, ging dem Ende zu, und ich wußte nicht mehr, was ich machen sollte.
In West End gibt es eine bekannte Agentur zur Vermittlung von Gouvernanten, sie heißt Westaway. Dort sprach ich jede Woche einmal vor, um zu hören, ob ein Angebot eingegangen sei, das mir zusagte. Westaway ist der Name des Firmengründers, aber geleitet wird das Unternehmen von Miss Stoper. Sie sitzt in ihrem kleinen Büro, und die Damen, die eine Anstellung suchen, warten im Vorzimmer und werden einzeln hereingerufen. Dann sieht sie in ihren Unterlagen nach, ob Passendes vorhanden ist.
Nun, als ich letzte Woche hinging, wurde ich wie üblich in das kleine Büro gewiesen, aber Miss Stoper war nicht allein. Ein erstaunlich dicker Mann mit großem, schwerem Kinn, das in Falten bis zur Kehle hinunterreichte, und einem Gesicht, das immer lächelte, saß neben ihr und sah sich sehr ernst die eintretenden Damen an. Kaum war ich im Zimmer, sprang er fast vom Stuhl hoch und wandte sich an Miss Stoper.
›Das ist die Richtige.‹ sagte er. ›Ich könnte nichts Besseres finden. Hervorragend! Hervorragend!‹ Er schien ganz aus dem Häuschen und rieb sich munter die Hände. Er sah so gemütlich aus, daß es eine Freude war, ihn anzuschauen.
›Sie suchen eine Stellung, Miss?‹ fragte er.
›Ja, Sir.‹
›Als Gouvernante?‹
›Ja, Sir.‹
›Und welches Gehalt verlangen Sie?‹
›Auf meiner letzten Stelle, bei Colonel Spence Munro, habe ich vier Pfund im Monat bekommen.‹
›Ts, ts! Schäbig, einfach schäbig!‹ rief er und warf die Hände in die Luft, als kochte er vor Leidenschaft. ›Wie kann man eine solch schandbare Summe einer so anziehenden und gebildeten Dame anbieten!‹
›Meine Bildung, Sir, ist möglicherweise weniger umfassend, als Sie annehmen‹, sagte ich. ›Ein bißchen Französisch, ein bißchen Deutsch, Musik, Zeichnen…‹
›Ts, ts! Darum geht es nicht‹, rief er. ›Die Frage ist: Haben Sie das Betragen und die Haltung einer Dame, oder haben Sie es nicht. Darum handelt sich’s, auf eine einfache Formel gebracht. Wenn Sie
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