Die Abenteuer des Sherlock Holmes Bd.1
es nicht haben, taugen Sie nicht, ein Kind aufzuziehen, das eines Tages möglicherweise eine erhebliche Rolle in der Geschichte des Landes spielen wird. Aber wenn Sie’s haben, wie könnte ein Gentleman dann von Ihnen verlangen, daß Sie so weit hinabsteigen, ein Gehalt zu akzeptieren, das unter einer dreistelligen Zahl liegt? Bei mir, Madam, würde sich Ihr Gehalt auf einhundert Pfund im Jahr belaufen.‹
Können Sie sich vorstellen, Mr. Holmes, daß ich, hilflos wie ich war, das Angebot zu schön fand, um wahr zu sein? Der Gentleman – vielleicht weil er meine ungläubige Miene sah – öffnete seine Brieftasche und nahm eine Banknote heraus.
›Ich bin es gewohnt‹, sagte er und lächelte höchst freundlich, wobei sich seine Augen in den weißen Polstern des Gesichts zu glänzenden Schlitzen zusammenzogen, ›meinen jungen Damen die Hälfte des Gehalts im voraus zu zahlen, damit sie die kleinen Ausgaben für die Anreise und die Garderobe bestreiten können. ‹
Mir schien, als wäre mir niemals ein so bezaubernder und aufmerksamer Mann begegnet. Da ich bei den Händlern schon Schulden hatte, bedeutete der Vorschuß für mich eine große Hilfe. Und doch fand ich das ganze Geschäft etwas ungewöhnlich, so daß in mir der Wunsch wach wurde, ein wenig mehr zu wissen, ehe ich mich verpflichtete.
›Dürfte ich erfahren, Sir, wo Sie wohnen?‹ fragte ich.
›Hampshire. Bezauberndes Bauernhaus. ›Blutbuchen‹ heißt es, liegt fünf Meilen von Winchester entfernt. Auf dem Lande, wo es am schönsten ist, das herrlichste alte Anwesen.‹
›Und meine Pflichten, Sir? Ich wüßte gern, worin sie bestehen. ‹
›Ein Kind, ein lieber kleiner Wildfang. Oh, wenn Sie ihn sehen könnten, wie er Küchenschaben mit dem Pantoffel totschlägt. Klatsch! Klatsch! Klatsch! drei, ehe man blinzeln kann.‹ Er lehnte sich zurück und lachte, aber schließlich kamen seine Augen wieder zum Vorschein.
Ich war ein wenig erschrocken darüber, wie das Kind sich amüsierte, aber das Lachen des Vaters verführte mich zu der Annahme, daß er möglicherweise scherzte.
›Meine einzige Aufgabe wäre demnach‹, fragte ich, mich eines einzelnen Kindes anzunehmen?‹
›Nein, nein, nicht die einzige, meine verehrte junge Dame‹, rief er. ›Es wäre auch Ihre Pflicht – die würde Ihnen aber wohl schon Ihr Taktgefühl eingeben –, allen kleinen Befehlen nachzukommen, die meine Frau Ihnen erteilt, vorausgesetzt immer, daß es sich um Befehle handelt, denen eine Dame mit Anstand nachkommen kann. Sehen Sie irgendwelche Schwierigkeiten?‹
›Ich wäre glücklich, mich nützlich machen zu können.‹
›Recht so. Nehmen wir zum Beispiel die Kleidung. Wir haben einen ziemlich ausgefallenen Geschmack, müssen Sie wissen – wir sind etwas eigenartig, aber freundlich. Würden Sie etwas gegen eine kleine Laune einwenden, wenn Sie Kleider tragen sollten, die wir Ihnen geben?‹
›Nein‹, sagte ich reichlich erstaunt.
›Oder würden Sie Anstoß nehmen, wenn wir Sie bäten, mal hier, mal dort Platz zu nehmen?‹
›O nein.‹
›Und würden Sie Ihr Haar kurz schneiden, ehe Sie bei uns anfangen?‹
Ich traute meinen Ohren kaum. Wie Sie vielleicht schon bemerkt haben, Mr. Holmes, habe ich recht üppig gewachsenes Haar mit eigentümlich kastanienbraunem Farbton. Man hat es kunstvoll genannt. Ich dachte einfach nicht daran, es ohne weiteres zu opfern.
›Ich fürchte, das ist ganz unmöglich‹, sagte ich.
Er hatte mich aus den kleinen Augen voll Eifer beobachtet, und ich sah, wie sich sein Gesicht verdüsterte, als ich ihn abschlägig beschied.
›Ich fürchte, das ist sehr wichtig‹, sagte er. ›Es handelt sich um eine Grille meiner Frau, Madam, und Frauengrillen muß man beachten. Sie würden sich also nicht die Haare abschneiden lassen?‹
›Nein, Sir, das könnte ich wirklich nicht‹, antwortete ich fest.
›Nun gut. Damit wäre die Angelegenheit erledigt. Schade, denn in anderer Hinsicht wären Sie sehr geeignet. Unter diesen Umständen, Miss Stoper, möchte ich mir noch einige Ihrer jungen Damen ansehen.‹
Die Vermittlerin hatte sich die ganze Zeit über mit Papieren beschäftigt und kein Wort an den Herrn oder an mich gerichtet. Jetzt aber sah sie mich so ärgerlich an, daß mir unwillkürlich der Verdacht kam, ihr könnte durch meine Ablehnung ein gutes Geschäft entgangen sein.
›Soll Ihr Name auf meiner Liste bleiben?‹
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