Die Abenteuer des Sherlock Holmes Bd.1
fragte sie.
›Wenn Sie so freundlich wären, Miss Stoper?‹
›Nun, das scheint mir ziemlich überflüssig zu sein, da Sie die hervorragendsten Angebote in solcher Weise ablehnen‹, sagte sie spitz. ›Sie können kaum erwarten, daß wir uns anstrengen, noch ein solches Angebot für Sie zu finden.‹ Sie schlug einen Gong, der auf dem Tisch stand, und ich wurde vom Diener hinausgeführt.
Nun, Mr. Holmes, als ich nach Hause kam und wenig im Schrank vorfand, dafür aber zwei, drei Rechnungen auf dem Tisch, fragte ich mich doch, ob ich mich nicht sehr töricht verhalten hatte. Wenn diese Leute auch seltsame Launen an den Tag legten und Gehorsamkeit in den außergewöhnlichsten Dingen verlangten, so waren sie doch wenigstens bereit, sich ihre Marotten etwas kosten zu lassen. Nicht viele Gouvernanten in England bekommen hundert Pfund im Jahr. Und außerdem: Was nützt mir mein Haar? Viele Leute verändern sich zu ihrem Vorteil, indem sie ihr Haar kurz tragen, und vielleicht sollte ich es auch versuchen. Am nächsten Tag war ich geneigt, anzunehmen, ich hätte einen Fehler gemacht, und am darauffolgenden war ich mir dessen sicher. Ich war schon entschlossen, meinen Stolz zu überwinden und bei der Agentur nachzufragen, ob die Stelle noch frei sei, als ich diesen Brief von dem Gentleman persönlich bekam. Ich lese ihn einmal vor:
Zu den Blutbuchen bei Winchester
Liebe Miss Hunter,
Miss Stoper war so freundlich, mir Ihre Adresse zu geben, und nun schreibe ich, weil ich wissen möchte, ob Sie sich Ihren Entschluß noch einmal überlegt haben. Meiner Frau liegt sehr daran, daß Sie zu uns kommen, denn sie war von meiner Beschreibung Ihrer Person höchst beeindruckt. Wir sind bereit, 30 Pfund im Quartal, also 120 Pfund jährlich, zu zahlen, um Sie für die kleinen Ungelegenheiten zu entschädigen, die unsere Laune Ihnen vielleicht bereiten könnte. Sie sind wirklich nicht sehr ausgefallen. Meine Frau liebt ein bestimmtes Blau und hätte es gern, wenn Sie ein Kleid der Farbe morgens im Haus trügen. Sie brauchen keines zu kaufen, da wir eins besitzen, das meiner lieben Tochter Alice (lebt jetzt in Philadelphia) gehört und das Ihnen, glaube ich, gut passen dürfte. Was unseren Wunsch angeht, daß Sie nicht immer am selben Platz sitzen, sondern ihn des öfteren wechseln und sich auf eine ebenfalls angeordnete Art unterhalten sollen, so wird Ihnen das nicht sehr lästig fallen. Was nun Ihr Haar betrifft: Es ist zweifellos schade, es abzuschneiden – ich selbst habe es bewundert während unseres kurzen Gesprächs –, aber ich fürchte doch, ich muß auf dieser Bedingung bestehen, und hoffe, das erhöhte Gehalt kann Sie für den Verlust entschädigen. Ihre Pflichten hinsichtlich des Kindes sind sehr leicht zu erfüllen. Bitte, versuchen Sie zu kommen. Ich werde Sie mit einem Dogcart in Winchester erwarten. Schreiben Sie mir, welchen Zug Sie nehmen. Ihr ergebener Jephro Rucastle
Das ist der Brief, den ich soeben erhalten habe, und ich bin entschlossen, das Angebot anzuneh men. Aber ich habe mir gedacht, daß es gut wäre, Ihnen die Angelegenheit zu unterbreiten, ehe ich den letzten Schritt tue.«
»Nun, Miss Hunter, wenn Sie sich entschlossen haben, ist die Frage doch gelöst«, sagte Holmes lächelnd.
»Aber können Sie mir denn nicht zur Ablehnung raten?«
»Ich gestehe, es scheint mir eine Situation, in der ich meine Schwester nicht gern sähe.«
»Was bedeutet das alles, Mr. Holmes?«
»Ich habe nichts Konkretes in der Hand. Ich kann Ihnen nichts sagen. Vielleicht haben Sie sich schon eine Meinung gebildet.«
»Ich sehe nur eine mögliche Erklärung. Mr. Rucastle scheint ein sehr freundlicher, gutmütiger Mann zu sein. Vielleicht leidet seine Frau an einer Geisteskrankheit, und er will das vertuschen, um sie nicht in eine Anstalt bringen zu müssen, und gibt ihren Marotten nach, damit es nicht zu einem Ausbruch der Krankheit kommt?«
»Das ist eine mögliche Erklärung und, wie die Dinge liegen, die wahrscheinlichste. Aber auf keinen Fall wird es wohl ein angenehmes Haus für eine junge Dame sein.«
»Das Geld, Mr. Holmes, das Geld!«
»Ja, die Bezahlung ist wirklich gut – zu gut. Das ist es, was mich stutzig macht. Warum sollte Ihnen jemand einhundertzwanzig Pfund im Jahr für etwas zahlen, das er auch für vierzig Pfund haben könnte? Dahinter muß ein triftiger Grund stekken.«
»Ich dachte mir, wenn ich Ihnen die Umstände auseinandersetze, würden
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