Die Abenteuer des Sherlock Holmes Bd.1
ist nicht geisteskrank. Sie ist eine stille, blaßgesichtige Frau, viel jünger als ihr Mann, nicht älter als dreißig, während er bestimmt fünfundvierzig sein dürfte. Aus ihrer Unterhaltung hörte ich heraus, daß sie erst sieben Jahre verheiratet sind, er Witwer war und jene Tochter, die jetzt in Philadelphia lebt, aus seiner ersten Ehe stammt. Mr. Rucastle erzählte mir im Vertrauen, sie hätte das Haus aus grundloser Abneigung gegen die Stiefmutter verlassen. Da die Tochter etwa zwanzig sein dürfte, kann ich mir vorstellen, daß ihr Verhältnis zu der jungen Frau ihres Vaters nicht erquicklich war.
Mrs. Rucastle kam mir farblos vor, sowohl geistig als auch körperlich. Sie machte auf mich keinen günstigen Eindruck noch das Gegenteil davon. Sie ist einfach ein Nichts. Ich sah sofort, daß sie ihrem Mann und ihrem Sohn leidenschaftlich zugetan ist. Ihre hellen grauen Augen wandern zwischen ihnen hin und her, sie liest ihnen alles vom Gesicht ab und kommt ihren Wünschen, wenn möglich, zuvor. Er ist freundlich zu ihr in seiner plumpen, lärmenden Art, und ganz allgemein bieten sie das Bild eines glücklichen Paars. Und doch hat sie heimlichen Kummer, diese Frau. Oft sitzt sie in tiefen Gedanken und sieht sehr traurig aus. Mehr als einmal habe ich sie in Tränen überrascht. Manchmal dachte ich, daß es die Art ihres Sohnes sei, die sie bedrückte, denn mir ist noch nie ein so verwöhntes und bösartiges kleines Geschöpf begegnet. Er ist klein für sein Alter, die Größe des Kopfes steht in keinem Verhältnis zum Körper. Sein ganzes Leben scheint sich zwischen wilden Gefühlsausbrüchen und düsterem Schmollen abzuspielen. Kreaturen, die schwächer sind als er, Schmerz zuzufügen ist offensichtlich sein einziger Begriff von Vergnügen, und er legt ein bemerkenswertes Talent im Fangen von Mäusen, jungen Vögeln und Insekten an den Tag. Aber ich sollte nicht über den Jungen sprechen, Mr. Holmes, denn er hat mit meiner Geschichte wenig zu tun.«
»Ich bin für alle Einzelheiten dankbar«, bemerkte mein Freund, »ob sie Ihnen wichtig vorkommen mögen oder nicht.«
»Ich werde versuchen, nichts Wichtiges wegzulassen. Das Unangenehme an diesem Haushalt, das mir sofort auffiel, sind das Äußere und das Benehmen der Bediensteten. Sie haben zwei, einen Mann mit seiner Frau. Toller, so heißt er, ist ein roher, ungeschlachter Mann, hat graues Haar und einen Backenbart und riecht ständig nach Schnaps. Zweimal war er, solange ich dort bin, völlig betrunken, und doch schien Mr. Rucastle nicht Notiz davon zu nehmen. Die Frau ist eine sehr große, starke Person mit einem mürrischen Gesicht, schweigsam wie Mrs. Rucastle, aber noch viel weniger liebenswürdig als sie. Sie sind ein äußerst unangenehmes Pärchen, aber glücklicherweise verbringe ich die meiste Zeit in meinem Zimmer und in dem des Kindes; beide Räume liegen in einer Ecke des Hauses nebeneinander.
Nach meiner Ankunft in ›Blutbuchen‹ hatte ich zwei ruhige Tage. Am dritten Tag kam Mrs. Rucastle kurz nach dem Frühstück noch einmal herunter und flüsterte mit ihrem Mann.
›O ja‹, sagte er dann, und zu mir gewandt: ›Wir danken Ihnen sehr, Miss Hunter, daß Sie auf unsere Launen insoweit eingegangen sind, als Sie sich das Haar haben kurz schneiden lassen. Ich versichere Ihnen, Sie haben dadurch nicht das kleinste bißchen in Ihrer Erscheinung eingebüßt. Nun wollen wir sehen, wie Ihnen das blaue Kleid steht. Sie finden es auf Ihrem Bett, und wenn Sie die Freundlichkeit hätten, es anzuziehen, wären wir Ihnen sehr verbunden.‹
Das Kleid, das da auf mich wartete, hat einen besonderen blauen Farbton. Es ist aus hervorragendem Material gefertigt, einer Art Wollstoff, aber man konnte deutlich sehen, daß es schon getragen war. Es hätte nicht besser passen können, wenn es für mich genäht worden wäre. Als sie mich in dem Kleid erblickten, drückten Mr. und Mrs. Rucastle ein Entzücken aus, das mir gänzlich unangemessen schien. Sie erwarteten mich im Salon – das ist ein sehr großer Raum mit drei bis zum Boden reichenden Fenstern, der über die ganze Vorderfront des Hauses geht. Nahe dem Mittelfenster war ein Stuhl aufgestellt, mit der Lehne zum Fenster. Da mußte ich mich hinsetzen, und dann begann Mr. Rucastle vor mir auf und ab zu gehen, und er erzählte mir die lustigsten Geschichten, die ich je gehört habe. Sie können sich nicht vorstellen, wie komisch er wirkte, und ich lachte, bis ich ganz erschöpft war.
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