Die Abenteuer des Sherlock Holmes Bd.1
ich. »Ein Freund von mir ist hier, Mr. Isa Whitney. Ich möchte ihn sprechen.«
Eine Bewegung und ein Ruf zu meiner Rechten machten mich aufmerksam, und als ich in das Halbdunkel spähte, sah ich Whitney; er starrte mich an, blaß, verstört und ungekämmt.
»Mein Gott, Watson«, sagte er. Er war in einem bejammernswerten Zustand, ein wahres Nervenbündel. »Wie spät ist es, Watson?«
»Fast elf.«
»Und was für ein Tag?« •
»Freitag, der 19. Juni.«
»Lieber Himmel! Ich dachte, es sei Mittwoch. Es ist auch Mittwoch. Warum wollen Sie einen armen Burschen erschrecken?« Sein Kopf sackte auf die Arme, und er begann in hohem, durchdringendem Ton zu schluchzen.
»Aber ich sage Ihnen, es ist Freitag. Ihre Frau wartet seit zwei Tagen auf Sie. Sie sollten sich schämen!«
»Ja, Sie haben recht. Aber Sie müssen sich irren, ich bin erst ein paar Stunden hier – drei Pfeifchen, vier Pfeifchen – ich habe vergessen, wie viele. Doch ich gehe mit Ihnen nach Hause. Ich möchte nicht, daß Kate – die arme kleine Kate – sich ängstigt. Helfen Sie mir auf. Haben Sie eine Droschke?«
»Ja, sie wartet.«
»Dann fahre ich. Aber ich muß noch bezahlen. Stellen Sie fest, wieviel ich bezahlen soll, Watson. Ich bin ganz durcheinander. Ich kann mir nicht helfen.«
Ich ging den schmalen Gang zwischen den Reihen der Schläfer hinunter, hielt den Atem an, um nicht die ekelhaften, benebelnden Gerüche des Rauschgifts einatmen zu müssen, und sah mich nach dem Wirt um. Als ich an dem langen alten Mann vorüberkam, der bei der Kohlenpfanne saß, spürte ich, wie mich einer am Ärmel zupfte, und hörte eine leise Stimme flüstern: »Gehen Sie vorbei und schauen Sie dann wieder zu mir her.«
Diese Worte hörte ich ganz deutlich. Ich blickte nach unten. Sie konnten nur von dem alten Mann neben mir gekommen sein, und doch saß er nach wie vor in sich versunken, sehr dünn, mit faltigem Gesicht, vom Alter gebeugt, die Opiumpfeife hing zwischen den Knien herab, als sei sie ihm vor Mattigkeit aus den Fingern geglitten. Ich ging zwei Schritte weiter, blickte zurück und mußte mich sehr zusammennehmen, um nicht vor Erstaunen aufzuschreien. Der Alte hatte sich so gedreht, daß keiner außer mir ihn sehen konnte. Seine Gestalt hatte sich aufgefüllt, die Falten waren verschwunden, die Augen hatten ihren Glanz; der dort beim Feuer saß und über meine Verblüffung grinste, war kein anderer als Sherlock Holmes. Er bedeutete mir mit einer kleinen Bewegung, näher zu kommen, und als er sein Gesicht der Gesellschaft noch einmal zukehrte, verfiel er sofort wieder in zitternde, sabbernde Greisenhaftigkeit.
»Holmes!« flüsterte ich, »was um Himmels willen tun Sie in der Opiumhöhle?«
»Sprechen Sie so leise wie möglich. Ich habe ausgezeichnete Ohren. Wenn Sie die große Güte besäßen, sich von Ihrem tölpelhaften Freund loszumachen, wäre ich außerordentlich glücklich, ein kleines Gespräch mit Ihnen führen zu können.«
»Draußen wartet eine Droschke.«
»Dann schicken Sie ihn bitte darin nach Hause. Das können Sie wagen, denn er scheint mir zu schlapp, um noch einmal Unfug anzustellen. Sie sollten durch den Kutscher auch Ihrer Frau eine Mitteilung geben, daß Sie sich mit mir zusammengetan haben. Wenn Sie draußen warten wollen – ich werde in fünf Minuten bei Ihnen sein.«
Es war schwierig. Sherlock Holmes eine Bitte abzuschlagen, denn seine Anliegen trug er stets äußerst bestimmt und überlegen vor. Ich fühlte, daß meine Mission beendet sei, wenn Whitney einmal in der Droschke untergebracht war. Und zudem konnte ich mir nichts Besseres vorstellen, als mit meinem Freund in einem jener außergewöhnlichen Abenteuer verbunden zu sein, in denen er zu leben pflegte. In wenigen Minuten hatte ich eine Nachricht an meine Frau geschrieben, für Whitney die Rechnung bezahlt, ihn zur Droschke geschafft und zugesehen, wie er in die Dunkelheit davonfuhr. Kurze Zeit danach tauchte eine altersgebeugte Gestalt aus der Opiumhöhle auf, und ich ging mit Sherlock Holmes durch die Straße. Ein, zwei Seitenstraßen weit schlurrte er noch, gebückt und unsicheren Fußes. Dann, nachdem er sich schnell umgesehen hatte, streckte er sich und brach in ein herzhaftes Gelächter aus.
»Ich vermute, Watson«, sagte er, »Sie argwöhnen, daß ich mir zu den Kokaininjektionen und all den anderen kleinen Schwächen, die Sie von Ihrem medizinischen Standpunkt aus immer so an
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