Die Abenteuer von Aguila und Jaguar
in einem früheren Leben schon einmal zurückgelegt hatte, aber die Erinnerung daran war bruchstückhaft. Die beiden folgten der Wegbeschreibung auf einem alten Pergament und richteten sich nach den Sternen, um sich in dieser schroffen Gebirgslandschaft zurechtzufinden. Die Temperatur lag hier selbst im Sommer meist etliche Grad unter Null, und nur während einiger Monate im Jahr, wenn keine schlimmen Schneestürme wüteten, konnte man es wagen, eine solche Wanderung zu unternehmen.
Aber selbst bei Sonnenschein war es bitterkalt. Die beiden Wanderer trugen wollene Mönchsumhänge und darüber grobe Yakfelle. Auch ihre Stiefel waren aus Yakfell, der Pelz nach innen gewendet, die lederne Außenseite gegen die Nässe eingefettet. Sie achteten auf jeden Schritt, denn wer auf dem Eis den Halt verlor, stürzte womöglich viele hundert Meter tief in eine der Felsspalten, die wie Axthiebe Gottes in den Berghängen klafften.
Gegen den tiefblauen Himmel hoben sich strahlend die verschneiten Gipfel ab, und die Wanderer erklommen sie langsam, denn in diesen Höhen wurde der Sauerstoff knapp. Oft hielten sie an, um sich an die dünne Luft zu gewöhnen. Sie spürten den Druck auf der Brust, die Ohren und der Kopf schmerzten, Schwindel überkam sie, und sie fühlten sich erschöpft, verloren jedoch kein Wort darüber; all ihre Sinne waren darauf gerichtet, gleichmäßig zu atmen und jedes Luftholen so gut es ging auszunutzen.
Sie waren aufgebrochen, um im verborgenen Tal der Yetis nach jenen seltenen Pflanzen zu suchen, die nur dort wachsen und mit denen sich viele Tinkturen und Heilsalben zubereiten lassen. Wer die Gefahren dieser Wanderung überstand, war dem Ziel, ein hoher Lama zu werden, ein Stück näher gekommen, denn auf diesem Weg wurden sein Wille und sein Mut viele Male auf die Probe gestellt. Beides, Wille und Mut, würde der Prinz brauchen, wollte er die Aufgabe erfüllen, die ihn in seinem Leben erwartete. Deshalb war sein Name Dil Bahadur, was in der Sprache des Verbotenen Reiches »tapferes Herz« bedeutet. Die Reise ins Tal der Yetis war eine der letzten Stufen der harten Unterweisung, die der Prinz seit zwölf Jahren erhielt.
Vom wahren Grund dieser Reise ahnte Dil Bahadur allerdings nichts, denn es ging um weit mehr als nur darum, nach den Heilpflanzen zu suchen oder aus ihm einen hohen Lama zu machen. Aber das gehörte zu den vielen Dingen, die der Meister seinem Schüler nicht einfach enthüllen durfte. Seine Rolle als Lehrer war eine andere: Er musste den Prinzen auf jeder Stufe dieser langen Lehrzeit begleiten, seine Körperbeherrschung fördern und seine Persönlichkeit stärken, ihn bei der Entwicklung seiner geistigen Fähigkeiten unterstützen und die Reinheit seines Bewusstseins ein ums andere Mal auf die Probe stellen. Eines Tages würde Dil Bahadur den Grund für seine Reise ins Tal der Yetis selbst erkennen, wenn er der prächtigen Statue des Goldenen Drachen gegenübertrat.
Tensing und Dil Bahadur trugen Bündel mit ihren Decken und einem lebensnotwendigen Vorrat an Getreide und Yakbutter auf dem Rücken. Um die Hüften hatten sie Seile aus Yakhaar geschlungen, die ihnen das Klettern erleichterten, und beim Gehen stützten sie sich auf einen langen, festen Stock, einen Wanderstab, mit dem sie sich auch gegen wilde Tiere verteidigen konnten und mit dessen Hilfe sich ein notdürftiges Zelt für die Nacht errichten ließ. Auch prüften sie damit die Tiefe und Festigkeit des Untergrunds, wenn ihnen die Erfahrung sagte, dass der Neuschnee an einer Stelle womöglich eine tiefe Mulde verbarg. Oft taten sich Spalten im Eis oder im Fels auf und zwangen sie zu weiten Umwegen, wenn es ihnen nicht gelang, darüber zu springen. Um sich diesestundenlangen Märsche zu ersparen, legten sie manchmal einen der Stäbe über die Kluft, vergewisserten sich, dass er auf beiden Seiten sicher auflag, und wagten es schließlich, einen Fuß darauf zu setzen und sich auf die andere Seite zu werfen, aber es durfte nur ein Schritt sein, denn zu groß war die Gefahr, in die Tiefe zu stürzen. Im Sprung dachten sie an nichts mehr, war ihr Kopf leergefegt, und sie vertrauten ganz auf ihre Geschicklichkeit, auf ihren Instinkt und ihr Glück, denn hätten sie hin und her überlegt, wie sie das anstellen sollten, sie hätten es niemals heil auf die andere Seite geschafft. Waren die Stäbe zu kurz, fand sich vielleicht ein höher gelegener Felsen, um den sie ein Seil schlingen konnten, dann banden sie sich das andere Ende um die
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