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Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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unbesiegbar, aber sie setzten es nicht für gewalttätige Zwecke ein, sondern nur als körperliche und geistige Übung; auch hüteten sie ihr Wissen und gaben es nur an ausgewählte Männer und Frauen weiter. Tensing hatte das Tao-Shu von ihnen gelernt und seinen Schüler Dil Bahadur darin unterrichtet.
    Durch das Erdbeben, durch Schnee und Eis und den Lauf der Jahre war ein großer Teil des Gebäudes zerfallen, aber zwei Seitenflügel standen noch, wenn auch nur als Ruinen. Um dort hinaufzugelangen, musste man einem kaum noch erkennbaren, halsbrecherischen Treppenweg folgen, der sich an der Felswandentlangschlängelte und schon seit einem halben Jahrhundert von niemandem mehr benutzt worden war. An einigen Stellen führten Hängebrücken über tiefe Einschnitte im Fels, aber sie waren in einem miserablen Zustand und nur mit größter Vorsicht zu überqueren.
    »Bald wird man das Kloster aus der Luft erreichen.« Tensing sah zum Himmel.
    »Glaubt Ihr, Meister, man kann von einem Flugzeug aus auch das Tal der Yetis entdecken?«
    »Möglicherweise.«
    »Stellt Euch nur vor, wir bräuchten uns nicht mehr durch die Berge zu quälen, könnten ins Flugzeug steigen und wären im Handumdrehen da.«
    »Ich hoffe, dazu wird es nicht kommen. Falls die Yetis gefunden werden, enden sie als Zirkusattraktionen oder als Arbeitssklaven«, sagte der Lama.
    Endlich waren sie oben im Chenthan Dzong, wo sie rasten und die Nacht im Schutz der Mauern verbringen wollten. An den zerfallenen Wänden des Klosters hingen noch Reste von Teppichen mit religiösen Bildern, auch Töpfe und Waffen fanden sich hier, nach dem Erdbeben von den Mönchen zurückgelassen. Überall konnte man Darstellungen des Buddha finden, mal saß er im Lotossitz, mal kniete oder stand er, und es gab sogar eine riesige Holzstatue, die den Erleuchteten auf der Seite liegend zeigte. Die goldene Farbe war abgeblättert, aber ansonsten war sie unbeschädigt. Fast alles war mit einer Schicht aus Eis und pulvrigem Schnee überzogen, was dem Ort eine besondere Schönheit verlieh, als wäre es ein Kristallpalast. Hinter dem Gebäude hatte eine Lawine eine ebene Fläche geschaffen, die einzige weit und breit, eine Art Hof so groß wie ein Basketballfeld.
    »Könnte hier ein Flugzeug landen, Meister?« Dil Bahadurs Begeisterung für die wenigen modernen Gerätschaften, die er kannte, war nicht zu überhören.
    »Von solchen Sachen verstehe ich nichts, Dil Bahadur, ich habe nie ein Flugzeug landen sehen, aber der Platz hier scheint mir doch etwas beengt, und außerdem bilden diese Berge einen Trichter, in dem der Wind von allen Seiten kreuz und quer pfeift …«
    Dort, wo früher einmal die Küche gewesen war, fanden sie Töpfe und anderes Metallgeschirr, Kerzen, Holzkohle, Späne zum Feuermachen und Steingefäße mit etwas Getreide, das sich durch die Kälte gut gehalten hatte. Dort standen auch Krüge mit Öl und ein Töpfchen Honig, den der Prinz noch nie gegessen hatte. Tensing reichte ihm einen kleinen Löffel voll, und Dil Bahadur hatte zum ersten Mal in seinem Leben etwas derart Süßes auf der Zunge. Das war so umwerfend köstlich, fast hätte er sich tatsächlich auf den Hintern gesetzt. Für das Abendessen entfachten sie ein Feuer, und dann zündeten sie als Zeichen der Hochachtung vor allen Buddhas Kerzen an. Heute Abend würden sie üppiger speisen, und für die Nacht hatten sie ein Dach über dem Kopf: Das verdiente eine kleine Dankzeremonie.
    Sie saßen schweigend und meditierten, als ein gedehntes Brüllen die Klosterruine erbeben ließ. Sofort schlugen sie die Augen auf, und da sahen sie ihn in den Saal kommen: einen riesigen weißen Tiger, wie es ihn nur im Himalaja gibt, übermächtig und gefürchtet wie kein zweites Raubtier der Erde.
    Der Prinz empfing einen stummen Befehl seines Meisters und versuchte auch, ihn zu befolgen, obwohl er instinktiv aufspringen und sich mit Hilfe des Tao-Shu verteidigen wollte. Wenn es ihm gelänge, eine Hand hinter die Ohren des Tigers zu legen, würde er ihn lähmen können, nun aber tat er gar nichts, blieb reglos sitzen und strengte sich an, gleichmäßig zu atmen, damit die Raubkatze seine Angst nicht witterte. Langsam kam der Tiger auf sie zu. Wie schön er ist, dachte Dil Bahadur und vergaß für einen Moment die drohende Gefahr. Das Fell schimmerte wie helles Elfenbein, die Streifen darin waren kastanienbraun und die Katzenaugen so wässrig blau wie manche Himalajagletscher. Es war ein ausgewachsenes Männchen, ein

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