Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
Vom Netzwerk:
diesem Leben nicht begegnet, aber ich erinnere mich aus einem früheren Leben an sie. Sie haben den gleichen Ursprung wie die Menschen, und vor einigen tausend Jahren besaßen sie auch eine Kultur, die fast so entwickelt war wie unsere, aber heute sind sie ziemlich unbehauen und von recht beschränktem Denkvermögen.«
    »Wieso das denn?«
    »Sie sind sehr streitsüchtig. Sie haben sich gegenseitig umgebracht und alles zerstört, was sie hatten, selbst ihr Land. Die Überlebenden haben sich in die Berge zurückgezogen, und dort sind sie immer mehr verwildert. Jetzt sind sie wie Tiere«, erzählte der Lama.
    »Gibt es noch viele?«
    »Wie man’s nimmt. Falls sie uns angreifen, werden wir denken, es sind viele, und falls sie uns freundlich aufnehmen, denken wir, es sind wenige. Auf jeden Fall wurden sie früher nicht sehr alt, hatten allerdings immer viel Nachwuchs, deshalb wird es wohl einige geben im Tal. Der Ort ist sehr unzugänglich, und bisherwurden sie dort noch nicht aufgespürt, aber manchmal geht einer auf Nahrungssuche zu weit weg und findet nicht wieder zurück. Möglicherweise stammen daher die Spuren dieser so genannten Schneemenschen.«
    »Diese Fußabdrücke sind riesig. Die Yetis müssen sehr groß sein. Ob sie noch immer so streitsüchtig sind?«
    »Du stellst viele Fragen, auf die ich keine Antwort weiß, Dil Bahadur.«
    ~
    Tensing führte seinen Schüler weiter und weiter hinein die Berge, sie sprangen über Klüfte, erklommen steile Felswände, folgten schmalen, in den Fels gehauenen Pfaden. Wenn Wind aufkam oder Hagel fiel, suchten sie eine geschützte Stelle und warteten. Einmal am Tag aßen sie Tsampa , eine Mischung aus geröstetem Gerstenmehl, getrockneten Kräutern, Yakbutter und Salz. Wasser gab es in Hülle und Fülle unter der Eisschicht der Bachläufe. Dil Bahadur kam es zuweilen so vor, als würden sie im Kreis gehen, denn die Landschaft sah für ihn überall gleich aus, aber das sagte er nicht: Es wäre seinem Meister gegenüber unhöflich gewesen.
    Wenn es Abend wurde, suchten sie einen Unterschlupf für die Nacht. Mal fanden sie eine Höhle oder wenigstens eine windgeschützte Spalte zwischen den Felsen, aber hin und wieder blieben ihnen nur die Yakfelle als notdürftiger Schutz gegen die eisige Nacht. War ihr karges Lager bereitet, setzten sie sich mit überkreuzten Beinen auf die Erde, blickten in die Richtung der untergehenden Sonne und stimmten das heilige Mantra an, sprachen wieder und wieder das Om mani padme hum , O, du Juwel im Lotos. Vom Echo zu einem vielstimmigen Chor verstärkt, hallte der Singsang endlos zwischen den hohen Bergen des Himalaja wider.
    Mit den Zweigen und trockenen Gräsern, die sie tagsüber in ihren Bündeln gesammelt hatten, entfachten sie ein Feuer, über dem sie ihr Essen zubereiteten. Wenn die Mahlzeit beendet war, meditierten sie lange. Da war es für gewöhnlich bereits so kalt, dass die beiden starr wie Eisstatuen wurden, aber sie spürten das kaum. Die Reglosigkeit war ihnen vertraut und verhalf ihnen zu innererRuhe. In ihrer buddhistischen Übung saßen Meister und Schüler ganz gelöst, aber aufmerksam da. Sie ließen sich durch keinen Gedanken ablenken und bildeten sich keine Urteile über die Welt, vergaßen jedoch niemals die Leiden der Menschen.
    ~
    Nachdem sie so viele Tage gewandert und in eisige Höhen vorgedrungen waren, näherten sie sich dem Chenthan Dzong, einer Klosterburg, in der die Lamas vor langer Zeit die Kampfkunst Tao-Shu entwickelt hatten. Im neunzehnten Jahrhundert hatte ein Erdbeben das Kloster zerstört, und man hatte es aufgeben müssen. Das Gebäude bestand aus Granitquadern, Ziegelsteinen und Holzbalken, hatte mehr als hundert Zimmer und sah aus, als hätte man es mit Klebstoff am Rand einer mächtigen Felswand befestigt. Einige hundert Jahre lang hatten die Mönche hier ihr Leben der Suche nach Erleuchtung und der Vervollkommnung ihrer Kampfkunst gewidmet.
    Ursprünglich waren die Mönche des Tao-Shu Ärzte gewesen, die außergewöhnlich viel über den Körperbau des Menschen wussten. Bei der Ausübung ihrer Heilkunst hatten sie entdeckt, dass es bestimmte Punkte am menschlichen Körper gibt, die man nur zu drücken braucht, um jemanden gefühllos zu machen oder zu lähmen, und dieses Wissen kombinierten sie mit den überlieferten asiatischen Kampftechniken. Sie wollten geistige Vollkommenheit erlangen, indem sie ihren Körper und ihre Empfindungen ganz beherrschten. Durch das Tao-Shu wurden sie im Zweikampf praktisch

Weitere Kostenlose Bücher