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Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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Hüfte, nahmen Anlauf, sprangen ab und schwangen wie ein Pendel hinüber. Obwohl der junge Schüler Gefahren meist ungerührt und mutig ins Auge sah, zögerte er doch immer, wenn es darum ging, eine Kluft auf die eine oder andere Weise zu überqueren.
    Jetzt standen sie wieder vor einem solchen Abgrund, und der Lama suchte die günstigste Stelle, um hinüberzukommen. Dil Bahadur schloss kurz die Augen zu einem Gebet.
    »Hast du Angst zu sterben, Dil Bahadur?« Tensing lächelte.
    »Nein, ehrwürdiger Meister. Der Zeitpunkt meines Todes ist mir vom Schicksal schon vor meiner Geburt bestimmt. Ich werde sterben, wenn die Aufgabe, für die ich wiedergeboren wurde, erfüllt und mein Geist bereit ist, sich von allem zu lösen; aber ich habe Angst, mir sämtliche Knochen zu brechen und lebend da unten zu liegen.« Er deutete auf die beeindruckende Leere vor seinen Füßen.
    »Das wäre möglicherweise unangenehm …«, sagte der Lama gut gelaunt. »Wenn du jedoch deinen Geist und dein Herz öffnest, wird es dir nicht mehr so bedrohlich erscheinen.«
    »Was würdet Ihr tun, wenn ich abstürze?«
    »Falls es dazu kommt, muss ich vielleicht darüber nachdenken. Im Moment bin ich mit den Gedanken bei anderen Dingen.«
    »Darf ich fragen, wo, Meister?«
    »Bei der schönen Aussicht.« Er zeigte auf die endlose Kette der Berge, auf das makellose Weiß des Schnees, auf den strahlenden Himmel.
    »Sieht aus wie eine Mondlandschaft«, sagte der Prinz.
    »Vielleicht … Wo auf dem Mond bist du denn gewesen, Dil Bahadur?« Tensing versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen.
    »So weit bin ich noch nicht gekommen, Meister. Aber ich stelle es mir so vor.«
    »Auf dem Mond ist der Himmel schwarz, und es gibt nicht solche Berge wie hier. Schnee gibt es dort auch keinen, nur Steine und aschgrauen Staub.«
    »Vielleicht kann ich eines Tages solche weiten Reisen in Trance unternehmen wie mein ehrwürdiger Meister«, sagte der Schüler.
    »Vielleicht …«
    Nachdem der Lama geprüft hatte, dass der Stab auf beiden Seiten sicher auflag, streiften die beiden ihre Felle und Umhänge ab, weil sie sich darin nicht frei bewegen konnten, und banden alles zu vier Bündeln zusammen. Der Lama hatte die Statur eines Zehnkämpfers. Sein Rücken und seine Arme waren Muskelpakete, sein Hals so dick wie bei anderen Leuten die Oberschenkel, und seine Beine sahen aus wie Baumstämme. Diese kriegerische Erscheinung bildete einen bemerkenswerten Kontrast zu dem heiteren Gesicht, den sanften Augen und dem zarten, fast weiblichen Schwung der immer lächelnden Lippen. Tensing hob die Bündel eines nach dem anderen auf, ließ den Arm wie einen Windmühlenflügel kreisen und schleuderte sie auf die andere Seite des Abgrunds.
    »Angst gibt es eigentlich nicht, Dil Bahadur«, sagte er, »wie alles andere entsteht auch sie nur in deinem Kopf. Unsere Gedanken erschaffen das, was wir Wirklichkeit nennen.«
    »Gerade eben erschaffen meine Gedanken ein ziemlich tiefes Loch, Meister«, nuschelte der Prinz.
    »Und meine erschaffen eine sehr sichere Brücke«, antwortete der Lama.
    Mit einem kurzen Wink verabschiedete er sich von seinem Schüler, der reglos im Schnee stand, tat einen Schritt über den Abgrund, erreichte mit dem rechten Fuß die Mitte des Holzstocks, warf sich im Bruchteil einer Sekunde nach vorne und landete mit dem linken Fuß auf der anderen Seite. Dil Bahadur kam hinter ihm her, weniger geschmeidig und langsamer zwar, aber nichts an seiner Bewegung verriet, wie aufgeregt er war. Der Meisterbemerkte nur, dass seine Haut vom Schweiß glänzte. Schnell zogen sie sich wieder an und setzten ihren Marsch fort.
    »Ist es noch weit?«, wollte Dil Bahadur wissen.
    »Vielleicht.«
    »Würdet Ihr es unverschämt finden, wenn ich Euch bitte, mir nicht immer mit vielleicht zu antworten, Meister?«
    »Vielleicht würde ich das.« Tensing grinste, schwieg einen Moment und sagte dann, dem Pergament zufolge müssten sie sich immer weiter nach Norden halten. Der schlimmste Teil der Wanderung stand ihnen noch bevor.
    »Habt Ihr die Yetis schon einmal gesehen, Meister?«
    »Sie sind wie Drachen, aus ihren Ohren quillt Feuer, und sie haben auf jeder Seite vier Arme.«
    »Du Schreck!«, entfuhr es dem Prinzen.
    »Habe ich dir nicht viele Male gesagt, du sollst nicht alles glauben, was du hörst? Such deine eigene Wahrheit.« Der Lama lachte.
    »Aber Meister, das hier ist doch keine Lektion über die Lehren des Buddha, sondern bloß eine Unterhaltung …«
    »Ich bin den Yetis in

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