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Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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aber nachdem er Judit Kinski kennen gelernt hatte, zweifelte er auch an seiner religiösen Berufung. Seit dem Tod seiner Frau hatte ihn nichts mehr so aus der Bahn geworfen wie der Besuch dieser Ausländerin. Er war ratlos und bat in seiner Meditation nur darum, sein Schicksal, ganz gleich, wie es aussah, möge sich erfüllen, ohne dass jemandem ein Leid widerfuhr.
    In seiner Jugend hatte der König zwar gelernt, die Botschaften des Goldenen Drachen zu entschlüsseln, doch fehlte ihm die Wahrnehmungsgabe des dritten Auges. Deshalb verstand er von den Antworten der Statue immer nur Bruchstücke. Jedes Mal, wenn er den Drachen um Rat fragte, wurde ihm dieser Mangel schmerzlich bewusst. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass sein Sohn viel besser auf sein Leben als König vorbereitet sein würde.
    »Das ist also mein Karma in meinem jetzigen Leben: König zu sein, ohne es zu verdienen«, sagte er manchmal traurig zu sich selbst.
    Es war schon tiefe Nacht, als der König fühlte, dass er dem Goldenen Drachen gegenübertreten konnte. Er verneigte sich tief vor dem Großen Buddha, berührte mit der Stirn den Boden, bat um das rechte Gespür und stand auf. Von dem stundenlangen Stillsitzen taten ihm die Knie und der Rücken weh. Er band Tschewang an einer in die Wand eingelassenen Kette fest, trank den letzten, mittlerweile kalt gewordenen Schluck Jasmintee, nahm sich eine Kerze und verließ den Saal. Seine nackten Füße machten auf dem glatten Steinboden kein Geräusch. Hier und da traf er auf Bedienstete, die um diese Zeit still den Palast reinigten.
    General Myar Kunglung hatte die meisten Palastwachen abgezogen, damit sie gemeinsam mit den wenigen Soldaten und Polizisten des Königreichs nach den verschwundenen Mädchen suchten. Dem König fiel ihre Abwesenheit kaum auf, er brauchte sowieso keinen Schutz. Tagsüber gaben die Wachen dem Ganzen ein feierliches Gepräge, aber über Nacht blieb nur eine Handvoll von ihnen da, und eigentlich hätte man die auch nach Hause schicken können. Die Sicherheit der Königsfamilie war nie gefährdet gewesen.
    Die tausend Räume des Palastes waren durch ein Gewirr von Türen miteinander verbunden. Die meisten Zimmer hatten vier Ausgänge, aber es gab auch sechseckige Räume mit sechs Türen. Damit man sich nicht verlief, hatten die Baumeister dieses alten Irrgartens in den oberen Stockwerken Zeichen in die Türen schnitzen lassen, aber in den Untergeschossen, zu denen nur einige Nonnen und Mönche, ein paar handverlesene Wachen und die Königsfamilie Zutritt hatten, halfen einem keinerleiWegweiser weiter. Außerdem gab es hier, zehn Meter unter der Erde, natürlich keine Fenster, und so fehlte einem jeder Anhaltspunkt, wo man sich gerade befand.
    Die unterirdischen Stockwerke wurden über ein ausgeklügeltes Röhrensystem belüftet, und in den Räumen hatte sich durch die Jahrhunderte ein ganz eigener Geruch festgesetzt, ein Gemisch aus Feuchtigkeit, Butterlampenfett und verschiedenen Weihraucharten, mit denen die Mönche Ratten und böse Geister fern hielten. In einigen der Räume wurden Pergamente und Verwaltungsakten aufbewahrt, in anderen Skulpturen und Möbel; wieder andere dienten als Arznei- oder Lebensmittellager oder als Waffenkammern, in denen Gerätschaften ruhten, die von niemandem mehr benutzt wurden, aber die meisten Räume waren leer. Die Wände waren mit religiösen Motiven, mit Drachen und Dämonen bemalt oder mit langen Texten in Sanskrit beschrieben, die von den schrecklichen Strafen kündeten, denen die bösen Seelen im Totenreich unterworfen sind. Auch die Decken waren bemalt, aber durch die Jahre vom Ruß der Butterlampen geschwärzt.
    Auf seinem Weg durch die Tiefen des Palastes entzündete der König mit seiner Kerze die Lampen. Er dachte, es sei langsam an der Zeit, im ganzen Gebäude elektrisches Licht zu installieren, das es bisher nur in einem der oberirdischen Gebäudeflügel gab, wo die Königsfamilie wohnte. Ohne zu zögern, ging er von Zimmer zu Zimmer: Er kannte den Weg im Schlaf.
    Bald betrat er einen rechteckigen Saal, größer und höher als die anderen Räume, wo eine Doppelreihe goldener Lampen den Weg zu einer kunstvoll aus Bronze und Silber gearbeiteten Tür wies, in die unzählige Jadesteine eingelassen waren. Davor standen zwei junge Männer in der traditionellen Uniform der königlichen Schildwache mit ihren federbuschbesetzten blauen Seidenkappen und bändergeschmückten Lanzen. Ihre Müdigkeit war ihnen anzusehen, nachdem sie nun schon

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