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Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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Minuten das Fleisch von den Knochen fraß.
    Wie der Amerikaner vorausgesehen hatte, war der Weg nicht nur mit mechanischen, sondern auch mit psychologischen Fallen gesichert. Für ihn war es, als stiege er hinab in die Abgründe der menschlichen Seele, aber er schaffte es, ruhig zu bleiben, indem er sich vorsagte, dass er sich diese grauenhaften Szenen, die sich vor seinen Augen abspielten, nur einbildete. Bei seinem Beruf musste er sich jederzeit im Griff haben. Die Skorpionkrieger dagegen waren unfähig, zwischen Wirklichkeit und Vorstellung zu unterscheiden, und so wurde die Reise zum Goldenen Drachen für sie zur Höllenfahrt. Vorbei war es mit ihrer Unerschrockenheit, was hier vorging, konnten sie sich nicht erklären, und das jagte ihnen Todesangst ein. In diesem verhexten Palast verloren sie noch ihr letztes bisschen Verstand.
    Sie betraten den Saal des Goldenen Drachen, ohne genau zu wissen, was sie dort finden würden, denn die Bilder auf dem Video waren verschwommen. Das Licht unzähliger Öllampen und dicker Bienenwachskerzen, von den vergoldeten Wänden zurückgeworfen, blendete sie. In der Luft hing der Geruch der Öllampen, gemischt mit Weihrauch und Myrrhe, die in Duftschalen glommen. Wie betäubt verharrten die fünf auf der Schwelle und lauschten auf das heisere, kehlige Dröhnen, das sich im ersten Moment anhörte, als würde ein Wal in einer riesigen Metallwanne blasen. Nach einer Weile ließen sich jedoch einzelne Töne darin unterscheiden, die unverkennbar eine Art Sprache bildeten. Mit dem Rücken zu ihnen saß der König im Lotossitz vor der Statue und hatte sie nicht eintreten hören, denn er war vollkommen in das Geräusch und in seine Aufgabe versunken.
    In einem Singsang sprach der Monarch eigenartige Wörter, und gleich darauf bebte der Raum unter der Antwort des Drachen. Man konnte die Vibrationen auf der Haut, im Gehirn, am ganzen Körper spüren. Es war, als stünde man im Innern einer gewaltigen Glocke.
    Vor Tex Gürteltier und den Skorpionkriegern stand der Goldenen Drache in seiner ganzen Pracht: Löwenkörper, Tatzen mit langen Klauen, geringelter Echsenschwanz, gefiederte Flügel, einwilder Kopf mit vier Hörnern, vorstehenden Augen und aufgerissenen Lefzen, die den Blick auf eine Doppelreihe scharfer Zähne und eine gespaltene Schlangenzunge freigaben. Die goldene Statue war bis in die kleinsten Details ebenmäßig gearbeitet: Am Rumpf saß auf jeder einzelnen Schuppe ein Edelstein, die Federenden der Flügel waren mit Diamanten besetzt, der geschuppte Schwanz trug ein verzwicktes Muster aus Perlen und Smaragden, die Zähne waren aus Elfenbein, und als Augen dienten zwei vollkommene Sternrubine, jeder so groß wie ein Taubenei. Das Fabeltier hockte auf einem schwarzen Steinsockel, in dessen Mitte ein gelblicher Quarz eingelassen war.
    Wie angewurzelt standen die Eindringlinge auf der Schwelle, blinzelten ins Licht, atmeten das Duftgemisch des Raumes und lauschten auf das dumpfe Dröhnen. Was sie sahen, übertraf ihre kühnsten Erwartungen; selbst dem Begriffsstutzigsten dämmerte, dass er etwas von unschätzbarem Wert vor sich hatte. In aller Augen blitzte die Gier, und jeder malte sich aus, wie sein Leben sich ändern würde, besäße er nur einen einzigen dieser Edelsteine.
    Sogar Tex Gürteltier war für einen Moment wie weggetreten, obwohl er sich eigentlich nicht für besonders geldgierig hielt und seine Arbeit aus purer Abenteuerlust tat. Er bildete sich etwas darauf ein, dass er ein einfaches, völlig freies Leben führte und sein Herz nie an Menschen oder was auch immer hängte. Im Alter, wenn er genug davon hätte, durch die Welt zu ziehen, wollte er sich ganz auf seiner Ranch im amerikanischen Westen niederlassen, wo er Rennpferde züchtete. Bei seinen Aufträgen war schon so manches Vermögen durch seine Hände gegangen, ohne dass er je versucht gewesen wäre, es für sich selbst zu behalten, schließlich war sein Anteil immer üppig, aber jetzt dachte er daran, den Spezialisten zu hintergehen. Hätte er diese Statue in seiner Gewalt, würde nichts ihn aufhalten können, er wäre so unglaublich reich, dass er sich jeden Wunsch würde erfüllen können, sogar seine eigene Organisation könnte er gründen, die noch mächtiger wäre als die des Spezialisten. Wie jemand, der einem Tagtraum nachhängt, überließ er sich für einen kurzen Moment dieser Vorstellung, war aber schnell wieder auf dem Boden der Tatsachen. ›Wahrscheinlich ist das der Fluch des Drachen: dass er

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