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Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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und schliefen tief und fest, bis der erste Glanz der Morgensonne den Himmel erhellte.
    Tensing begann das Morgengebet, und im Chor stimmten alle in das Om mani padme hum ein. Hier betete man nicht zu einer Gottheit, denn Buddha war ja nur ein Mensch gewesen, der die Erleuchtung erlangt und so alle Dinge verstanden hatte; ihr Gebet richtete sich wie ein Hoffnungsstrahl in den weiten Raum und an alles beseelte Sein. Von Alexanders Familie war niemand gläubig, und ihm war es fremd, wie sehr im Verbotenen Reich noch die alltäglichsten Handlungen von einem göttlichen Sinn durchdrungen schienen. Religion und Leben waren hier eins; jeder Mensch hegte den Buddha, den er in seinem Innern trug. Alex überraschte sich dabei, dass er das heilige Mantra begeistert mitsang.
    Der Lama segnete die Speisen und verteilte sie, während Nadia die zwei Schalen mit dampfendem Tee herumgehen ließ.
    »Möglicherweise wird der Tag schön, sonnig und windstill«, sagte Tensing mit einem prüfenden Blick in den Himmel.
    »Wenn der ehrwürdige Meister es möchte, könnten wir vielleicht bald aufbrechen, denn bis ins Tal ist es weit«, sagte Pema.
    »Ich glaube, mit ein bisschen Glück seid ihr alle in weniger als einer Stunde unten am Fuß der Wand«, sagte Alex und warf sich die Seile über die Schulter.
    Kurz darauf begannen sie mit dem Abstieg. Alex schnallte sich den Sitzgurt um, und wie ein Krabbeltier landete er im Nu auf dem Felsabsatz in der Mitte der Wand. Pema wollte als nächste gehen. Dil Bahadur zog das Seil hoch, half ihr in den Gurt und erklärte ihr noch einmal, wie sie den Abseilachter bedienen sollte:
    »Du musst nach und nach Seil zugeben. Keine Bange, falls es nicht gleich klappt, ich halte dich mit dem zweiten Seil, bis du den Rhythmus gefunden hast.«
    »Vielleicht siehst du besser nicht in die Tiefe. Wir werden dich mit unseren Gedanken tragen«, sagte Tensing und trat ein paar Schritte zurück, um Pema in Gedanken Kraft zu senden.
    Dil Bahadur schlang sich das Sicherungsseil, das über mehrere Schlingen am Fels verankert war, um die Hüfte und gab Pema einZeichen, dass es losgehen konnte. Sie trat an den Rand des Abgrunds und lächelte, um ihre Panik zu verbergen.
    »Ich hoffe, wir sehen uns wieder«, flüsterte Dil Bahadur nur, weil er Angst hatte, mit jedem weiteren Wort zu verraten, wie sehr er sie anhimmelte.
    »Das hoffe ich auch. Ich werde zum Chenthan Dzong kommen, versprochen … Pass auf dich auf«, sagte sie mit belegter Stimme.
    Pema schloss kurz die Augen, atmete tief durch und trat über den Rand ins Leere. Einige Meter fiel sie fast wie ein Stein, bis sie den Abseilachter unter Kontrolle brachte und ihren Sturz bremste. Nach und nach fand sie ihren Rhythmus und gewann an Sicherheit. Mit den Füßen hielt sie Abstand zur Wand und holte Schwung. Der Mönchsumhang flatterte, und von oben sah sie aus wie eine Fledermaus. Früher als erwartet, hörte sie, wie Alex ihr zurief, sie habe es gleich geschafft.
    »Hervorragend!« Er fing sie auf.
    »Das war’s schon? Es hat gerade angefangen, Spaß zu machen.« Sie strahlte.
    Auf diesem schmalen, ungeschützten Felsvorsprung hätte jede Windböe sie in Nöte gebracht, aber genau wie Tensing gesagt hatte, half ihnen das Wetter. Der Sitzgurt wurde nach oben gezogen, und dann war das nächste Mädchen an der Reihe. Sie war nicht so tollkühn wie Pema, die Knie schlotterten ihr vor Angst, aber der Lama konnte sie durch einen seiner hypnotisierenden Blicke beruhigen. Ohne größere Schwierigkeiten schafften alle vier Mädchen den Abstieg, denn sobald eine stockte oder das Seil losließ, fing Dil Bahadur sie mit dem Sicherungsseil ab. Auf dem Felsvorsprung wurde es langsam eng, und zu sechst konnte man sich schließlich fast gar nicht mehr bewegen. Aber damit hatte Alex gerechnet und am Vorabend schon etliche Haken platziert, an denen sie sich festhalten konnten. Jetzt waren sie bereit für den zweiten Teil des Abstiegs.
    Dil Bahadur löste die Karabiner, Alex holte die Seile ein und bereitete die nächste Etappe vor. Diesmal würde Pema niemanden haben, der sie unten auffing, aber sie hatte Zutrauen gefasst und ließ sich ohne Zaudern im Sitzgurt nach unten gleiten. In kurzen Abständen folgten ihre Gefährtinnen.
    Alex winkte ihnen nach und hoffte von ganzem Herzen, dass diese vier Mädchen, die in ihren festlichen Seidensarongs und den Sandalen so zerbrechlich aussahen, und die fünfte, die den kleinen Trupp als Mönch verkleidet anführte, einen Weg ins nächste

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