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Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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Bahadur, so schnell es irgend ging, zum Chenthan Dzong aufbrechen.
    Alex achtete nicht auf die anderen, sondern ging am Rand der Felswand hin und her und sah hinunter. Wie würde sein Vater das anstellen? Der würde da bestimmt nicht bloß hinunter-, sondern auch wieder heraufkommen. Sein Vater hatte schon ganz andere Wände als die hier bezwungen, und das mitten im Winter, manchmal bloß zum Spaß, aber manchmal auch, um verunglückte oder von einem Unwetter überraschte Bergsteiger zu bergen. Sein Vater war besonnen, überstürzte nichts, ließ aber auch nichts unversucht, wenn Menschenleben auf dem Spiel standen.
    »Ich glaube, mit meiner Ausrüstung komme ich runter«, sagte Alex.
    »Wie viele Meter sind das?«, fragte Nadia, ohne hinzusehen.
    »Ziemlich viele. Meine Seile sind nicht lang genug, aber es gibt ein paar Absätze, Felsvorsprünge, so dass wir den Abstieg nach und nach machen können.«
    »Vielleicht wird es gehen«, sagte Tensing, der auf diese Idee überhaupt nur gekommen war, nachdem er gesehen hatte, wie Alexander Nadia aus dem Graben barg.
    »Es ist ziemlich riskant, aber mit ein bisschen Glück kann ich es hinkriegen; bloß, wie sollen die Mädchen das schaffen? Sie haben doch keinerlei Erfahrung mit dem Abseilen«, gab Alex zu bedenken.
    »Womöglich finden wir einen Weg, wie wir ihnen hinunterhelfen können …«, sagte Tensing und entschuldigte sich, weil er beten wollte, denn dazu war er schon seit Stunden nicht mehr gekommen.
    Während Tensing etwas abseits auf einem Felsen saß und mit dem Blick ins grenzenlose Blau des Himmels meditierte, legte sich Alex seine Seile zurecht, zählte die Haken, prüfte den Hüftgurt, besah sich die Wand und suchte mit Dil Bahadur die beste Stelle für den Abstieg.
    »Wenn wir wenigstens einen Flugdrachen hätten!« Dil Bahadur sah zweifelnd ins Tal.
    Mit Pemas Hilfe erzählte er Nadia und Alexander, dass im Verbotenen Reich nach lange überlieferter Tradition Flugdrachen aus Seide gefertigt wurden, die wie Doppeldeckervögel aussahen. Manche waren so groß und stabil, dass sie zwischen den Flügeln einen Menschen tragen konnten. Tensing kannte sich mit dem Fliegen gut aus und hatte es seinem Schüler beigebracht. Der Prinz erzählte ihnen von seinem ersten Flug vor ein paar Jahren, als er von einem Kloster aus zu einem gegenüberliegenden Berg gesegelt war, die Aufwinde den leichten Drachen getragen hatten, während er von sechs Mönchen an einem langen Seil gehalten wurde.
    »Auf die Art sind doch bestimmt schon viele Leute ums Leben gekommen …«, sagte Nadia.
    »So gefährlich ist das gar nicht«, versicherte der Prinz.
    »Wahrscheinlich so wie Segelfliegen«, sagte Alex.
    »Mit einem Flugzeug aus Seide … Nein, danke.« Nadia war heilfroh, dass kein Flugdrachen zur Hand war.
    ~
    Tensing betete darum, dass kein Wind aufkäme, was den Abstieg unmöglich gemacht hätte. Er betete auch, der amerikanische Junge möge erfahren und entschlossen genug sein, um den anderen ihre Furcht zu nehmen.
    Als er wieder zu ihnen trat, sagte Alex:
    »Von hier aus kann ich die Tiefe schlecht abschätzen, Meister Tensing, aber falls meine Seile bis dort unten zu diesem schmalen Absatz reichen, schaffe ich es.«
    »Und die Mädchen?«
    »Die bringe ich eine nach der anderen runter.«
    »Mich nicht«, sagte Nadia fest.
    »Nadia und ich möchten mit Euch und Dil Bahadur zum Kloster gehen«, sagte Alex.
    »Und wer führt die Mädchen ins Tal?«, wollte der Lama wissen.
    »Vielleicht erlaubt der ehrwürdige Meister, dass ich diese Aufgabe übernehme …«, sagte Pema.
    »Fünf Mädchen allein?«, unterbrach sie Dil Bahadur.
    »Warum nicht?«
    »Es ist deine Entscheidung, Pema, allein deine«, sagte Tensing und besah sich zufrieden die goldene Aura des jungen Mädchens.
    »Womöglich ist jeder von euch für diese Aufgabe besser geeignet als ich, aber falls der Meister es mir gestattet und mich mit seinen Gebeten begleitet, kann ich vielleicht ehrenvoll meinen Teil zum Gelingen des Ganzen beitragen«, sagte Pema.
    Aus Dil Bahadurs Gesicht war alle Farbe gewichen. Zum ersten Mal im Leben war er bis über beide Ohren verknallt, und er hatte vom ersten Augenblick an gewusst, dass außer Pema keine Frau auf der Welt für ihn in Frage kam. Dass er außer ihr gar keine Frauen kannte und, was die Liebe betraf, ein völliger Grünschnabel war, spielte für seinen Entschluss keine Rolle. Er fürchtete, sie könne sich an der Steilwand zu Tode stürzen oder sich, falls sie den Abstieg

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