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Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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drauflos, weil sie hier schon manchmal gewesen waren, wenn sie für kurze Beutezüge ihr Tal verlassen hatten. Vor der nächsten Brücke gebot Tensing ihnen allerdings Einhalt, denn am Grund der Kluft lag ein Toter in einer dunklen Tunika: Der Amerikaner und die Skorpionkrieger waren also schon vor ihnen hier gewesen.
    »Der Mann ist abgestürzt, die Brücke ist nicht sicher«, sagte Alex.
    »Da! Hufspuren und Fußabdrücke!« Dil Bahadur deutete auf ein morastiges Rinnsal, das den Weg kreuzte. »Hier müssen sie abgestiegen sein, und dann haben sie die Pferde geführt.«
    »Mir ist schleierhaft, wie sie überhaupt bis hierher haben reiten können. Die Pferde müssen wie Ziegen sein«, sagte Alex.
    »Möglicherweise sind es Tibet-Ponys, die sind zum Klettern ausgebildet, sie sind zäh und geschickt und daher sehr wertvoll.« Dil Bahadur besah sich die Brücke.
    »Jedenfalls müssen wir da rüber«, sagte Nadia.
    »Wenn die vor uns es mit den Pferden und dem schweren Goldenen Drachen geschafft haben, können wir das auch.« Dil Bahadur trat auf das erste Brückenbrett, aber Tensing hielt ihn zurück:
    »Das kann die Brücke sehr geschwächt haben. Vielleicht sollten wir vorsichtig sein.«
    Die Kluft war nicht breit, aber die Wanderstäbe der Mönche reichten nicht bis zur anderen Seite. Nadia schlug vor, Borobá mit einem Seil gesichert hinüberzuschicken, aber der Affe war ein Fliegengewicht, und wenn er heil drüben ankam, hieß das noch gar nichts. Dil Bahadur besah sich den gegenüberliegenden Rand und erspähte eine dicke Wurzel. Alex band eines seiner Seile fest an einen Pfeil, Dil Bahadur schoss, und die Pfeilspitze bohrte sich tief in den Wurzelstrunk. Das zweite Seil um die Hüfte geknotet, tastete sich Alex, von Tensing gesichert, langsam auf der Brücke vorwärts, jedes Brett prüfend, ehe er es mit seinem Gewicht belastete.
    Falls die Brücke nachgab, würde er sich kurz an dem ersten Seil abfangen können, und falls der Pfeil unter der Belastung brach, wäre da immer noch Tensing, der seinen Sturz in den Abgrund mit dem zweiten Seil aufhalten würde. Dann müsste er nur aufpassen, dass er nicht unglücklich gegen die Felsen schlug. Er hoffte auf seine Klettererfahrung.
    In Zeitlupe näherte sich Alex der anderen Seite. Er war etwa in der Mitte, als zwei Bretter brachen und er hinfiel. Nadia schrie auf, das Echo hallte. Alle hielten den Atem an, bis die Brücke zu schwanken aufhörte und Alex das Gleichgewicht wieder fand. Er packte das erste Seil, rutschte ein Stück nach hinten, zog sehr vorsichtig sein Bein aus dem Loch über dem Abgrund und kam schließlich langsam wieder auf die Füße. Er überlegte noch, ob er weitergehen oder umkehren sollte, da ließ ein sonderbares Geräusch ihn aufhorchen: Es war, als würde die Erde schnarchen. Ein Beben, dachte er, die gab es hier doch häufig, aber dann sah er weit oben am Berg Schneegestöber und erste Steine, die durch die Kluft in die Tiefe rollten. Nadias Schrei hatte eine Lawine ausgelöst.
    Ohnmächtig sahen Alexanders Gefährten, wie der mörderische Strom von Steinen anschwoll und auf die Brücke zudonnerte. Alex konnte weder vor noch zurück.
    Tensing und Dil Bahadur bündelten unwillkürlich all ihr Denken, um Alexander Kraft zu schicken. Hätte er mehr Zeit gehabt, Tensing hätte die schwerste Prüfung für einen Tulku versucht: dem Willen der Natur Einhalt zu gebieten. Tulkus waren die Wiedergeburten großer Lamas, und wenn es um Leben und Tod ging, konnten manche Tulkus den Wind aufhalten, Gewitter abwenden, Überschwemmungen oder Frost verhindern, aber Tensing hatte so etwas noch nie tun müssen. Man konnte das nicht üben. Und jetzt war es zu spät, den Weg der Lawine ändern zu wollen und Alexander zu retten. Tensing setzte alles daran, seine eigene körperliche Kraft auf Alexander zu übertragen.
    Alex dröhnte das Donnern der Steinlawine in den Ohren, das Schneegestöber nahm ihm die Sicht. Es ist aus, dachte er, und diese Gewissheit durchzuckte ihn wie ein Stromstoß, fegte alles Denken aus seinem Kopf. Er spürte eine übernatürliche Kraft in sich und war im Bruchteil einer Sekunde der schwarze Jaguar des Amazonasdschungels. Mit einem fürchterlichen Brüllen und einem mächtigen Satz sprang er auf die andere Seite der Kluft und landete auf seinen vier Raubkatzenpfoten, während die Steine hinter ihm in die Tiefe prasselten.
    Durch das Gestöber aus Schnee und Staub konnten seine Gefährten nicht sehen, dass Alex gerettet war. Nur Nadia

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