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Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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weiter oben und bekam eine Wurzel zu fassen, während sie mit dem zweiten Fuß nach einem Halt im Fels tastete. Dann war wieder die erste Hand an der Reihe, und kaum hatte sie einen Vorsprung gefunden, stemmte Nadia sich erneut ein Stück nach oben. Die Pflanzen, die hier wuchsen, halfen ihr, es gab Wurzeln, Sträucher und Lianen. Außerdem sah sie tiefe Kratzer in den Felsen und in einigen Stämmen; bestimmt waren das Spuren von Klauen. Auchdie Bestien mussten hier schon hinaufgestiegen sein, vielleicht auf der Suche nach etwas Essbarem oder weil sie sich im Labyrinth nicht zurechtfanden und ihr Weg aus dem Tepui jedes Mal diese steilen Wände hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter führte. So langsam, wie sich diese Riesenfaultiere bewegten, musste das Tage, wenn nicht Wochen dauern.
    Ganz hatte Nadia ihre Gedanken nicht abgeschaltet, jedenfalls begriff sie, dass es nur eine optische Täuschung gewesen war und sich der Talkessel nicht wie ein Kegel nach oben verengte, sondern sich kaum merklich weitete. Und sie würde keine Käferfüßchen brauchen, sondern nur all ihre Sinne und ihren Mut. So kletterte sie Meter für Meter, Stunde um Stunde, unbeirrbar und mit einer Geschicklichkeit, die sie an sich selbst nicht kannte. Diese Geschicklichkeit entstammte dem verborgensten und geheimnisvollsten Ort, einem Ort der Ruhe in ihrem Herzen, wo der Mut ihres Totemtieres wohnte. Sie war Aguila, der Adler, der sich höher als alle anderen Vögel in die Lüfte erhebt, war die Königin des Himmels, die ihr Nest dort baut, wo nur die Engel es erreichen können.
    ~
    Das Adlermädchen kletterte und kletterte. Die schwülwarme Luft des Tales wurde zur kühlen Brise, und das verschaffte ihr ein bisschen Erleichterung. Dennoch musste sie oft erschöpft innehalten, sich zwingen, nicht nach unten zu sehen, nicht darüber nachzudenken, wie weit es wohl noch bis zum Gipfel war, sich nur auf die nächste Bewegung zu konzentrieren. Ein fürchterlicher Durst verdorrte ihre Kehle; ihr Mund war wie mit bitterem Sand gefüllt, aber sie durfte nicht loslassen und nach Walimais Kalebasse auf ihrem Rücken greifen. Wenn ich oben bin, trinke ich, sagte sie sich und malte sich aus, wie das kühle, klare Wasser diesen scheußlichen Geschmack wegwusch. Wenn es wenigstens geregnet hätte, aber nicht ein Tropfen löste sich aus den Wolken. Als sie schon meinte, nicht einen Schritt mehr tun zu können, spürte sie Walimais magischen Talisman an ihrem Hals, und das gab ihr wieder Mut. Er war ihr Schutz. Mit seiner Hilfe war sie die glatten, schwarzen Felsenhinter dem Wasserfall hinaufgekommen, er hatte die Indianer zu ihren Freunden gemacht, hatte sie vor dem Zorn der Bestien bewahrt; solange sie ihn besaß, würde ihr nichts zustoßen.
    Lange Zeit später berührte ihr Kopf die ersten Wolken, die dicht waren wie Eischnee, und dann hüllte das milchige Weiß sie vollständig ein. Blind kletterte sie weiter, krallte sich an Felsen fest und an dem Gestrüpp, das weiter oben immer spärlicher wuchs. Sie merkte nicht, dass ihre Hände, ihre Knie und Füße bluteten, dachte nur an die Zauberkraft, die ihr half, als sie plötzlich mit einer Hand einen breiten Felsabsatz ertastete. Mit allerletzter Kraft stemmte sie sich hoch und fand sich auf dem wolkenverhangenen Gipfel des Tepuis wieder. Nadia stieß einen mächtigen Triumphschrei aus, so wenig von dieser Welt und so wild wie von hundert Adlern, einen Laut, der an den Felszinnen widerhallte, sich brach, vielstimmig wurde und sich schließlich am Horizont verlor.
    Nadia wartete reglos, bis ihr Schrei in den letzten Felsspalten der weiten Hochebene verebbt war. Ihr trommelndes Herz kam zur Ruhe, und sie konnte tief durchatmen. Kaum fühlte sie sich halbwegs sicher auf dem Fels, griff sie nach der Kalebasse und trank sie bis auf den letzten Tropfen aus. Noch nie hatte sie sich etwas so sehr gewünscht. Die kühle Flüssigkeit drang in ihre Kehle, spülte den bitteren Sandgeschmack aus ihrem Mund, benetzte ihre trockene Zunge und die rissigen Lippen und durchflutete sie ganz. Das war das Glück: Etwas zu bekommen, wonach man sich so lange gesehnt hat.
    Die Höhe und die wahnsinnige Kraft, die sie aufgebracht hatte, um ihre Furcht zu überwinden und bis hier heraufzusteigen, wirkten wie eine Droge, die weit mächtiger war als die Drogen der Indianer von Tapirawa-teri oder Walimais Zaubertrank, durch den man seine Träume miteinander teilen konnte. Wieder hatte sie das Gefühl zu fliegen, aber diesmal

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