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Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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gesehen hatten, denn alle, selbst der kleine Borobá, waren im gleichen Traum gewesen. Sie mussten dem Rat der Götter, der erneut zusammentrat, nicht wie am Vortag stundenlang ihre Vorstellungen erläutern. Jeder wusste, was bevorstand und welche Rolle er dabei zu spielen hatte.
    »Jaguar und Aguila werden mit dem Rahakanariwa kämpfen. Welchen Lohn erbitten sie, falls sie den Kampf gewinnen?«, gelang es einem dieser unendlich langsamen Wesen mit vielen Stockungen und Pausen zu fragen.
    »Die drei Eier aus dem Nest«, sagte Nadia wie aus der Pistole geschossen.
    »Und das Wasser des Lebens«, sagte Alex und dachte an seine Mutter.
    Mit schreckgeweiteten Augen starrte Walimai sie an und zischte ihnen zu, mit diesen Bitten hätten sie gegen das wichtigste Gesetz von Geben und Nehmen verstoßen: Wer gibt, darf auch nehmen, jedoch darf das Geben niemals an eine Bedingung geknüpft sein. Es war das Gesetz der Natur. Sie hatten es gewagt, die Götter um etwas zu bitten, noch ehe sie ihnen etwas dargebracht hatten. Die Götter hätten diese Frage aus reiner Höflichkeit gestellt, und als angemessene Antwort hätten sie ihnen versichern müssen, dass sie keinerlei Lohn wünschten und aus Achtung vor den Göttern und Mitleid für die Menschen handelten. Tatsächlich schienen die Bestien über die Forderung dieser Fremden fassungslos und erbost. Jetzt richteten sich einige bedrohlich knurrend zu ihrer vollen Größe auf und hoben ihre Arme, die dick waren wie die Äste von alten Eichen. Walimai warf sich vor dem Rat auf den Boden und stammelte Erklärungen und Entschuldigungen, schaffte es aber nicht, die Bestien zu beruhigen. Was, wenn eine auf die Idee kam, sie mit ihrem Gestank zu betäuben, dachte Alex und griff zu dem einzigen Mittel, das ihm einfiel: zu der Flöte seines Großvaters.
    »Ich habe ein Geschenk für die Götter«, sagte er zitternd.
    Die ersten Töne durchwehten sanft, aber noch zögerlich die schwüle Stille im Talkessel des Tepuis. Doch bis die Bestien ausihrer Verblüffung wieder zu sich kamen, hatte Alex sich freigespielt und überließ sich ganz dem Glücksgefühl, Musik zu machen. Etwas von Walimais übernatürlichen Kräften schien sich auf die Flöte übertragen zu haben. Die Töne vervielfältigten sich vor der eindrucksvollen Kulisse der goldenen Stadt, hallten in immer neuen, endlosen Klangfolgen von den Felsen wider, brachten die Orchideen an den hohen Kristallwänden zum Erzittern. So hatte er noch nie gespielt, noch nie hatte er sich so mächtig dabei gefühlt: Mit dem Zauber seiner Flöte konnte er die wilden Tiere zähmen. Es hörte sich an, als wäre die Flöte an einen gigantischen Synthesizer angeschlossen, der ihr Spiel mit einem kompletten Orchester, von Streichern über Bläser bis hin zu den Pauken, begleitete. Die wilden Götter, reglos zuerst, begannen zu schwanken wie große Bäume im Wind; sie stampften mit ihren urzeitlichen Füßen, und die grüne Oase im Tepui hallte wider wie die Glocke einer Kathedrale. Jetzt war Nadia mit einem Satz in der Mitte des Halbkreises, während Borobá, als verstünde er, dass dies ein entscheidender Moment war, mucksmäuschenstill zu Alex’ Füßen verharrte.
    Nadia begann zu tanzen und spürte die Kraft der Erde wie einen Energiestrom im ganzen Körper. Sie hatte nie ein Ballett gesehen, aber all die Rhythmen in sich aufgenommen, die sie so oft gehört hatte: die brasilianische Samba, die Salsa und den Joropo aus Venezuela, die nordamerikanischen Beats, die sie aus dem Radio kannte. Sie hatte die Schwarzen, die Mulatten, die Caboclos und die Weißen gesehen, wie sie beim Karneval in Manaus bis zur Erschöpfung tanzten, hatte den Indianern bei ihren rituellen Tänzen zugesehen. Sie wusste nicht, was sie da tat, folgte nur ihrem Instinkt, um den Göttern ein Geschenk zu machen. Sie flog. Ihr Körper bewegte sich ganz von selbst, wie in Trance, ohne dass sie sich dessen bewusst war oder darüber nachdenken musste. Sie wiegte sich wie die höchsten Palmen, bäumte sich auf wie die Gischt der Stromschnellen, wirbelte herum wie der Wind. Sie ahmte den Flug der Aras nach, die wilde Hatz der Jaguare, die Sprünge der Delfine, das Schwirren der Fliegen, das Kriechen der Schlangen.
    Seit Tausenden von Jahren hatte es Leben gegeben im Talkessel des Tepuis, aber noch nie hatte man hier Musik gehört, nicht einmal das Schlagen einer Trommel. Die beiden Male, als sich dieNebelmenschen in den Schutz der legendären Goldstadt flüchteten, hatten sie die

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