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Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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müsse. Und da erinnerte sie sich an das, was der weise Zauberer sie am Tag zuvor gelehrt hatte: Das Gesetz von Geben und Nehmen. Für alles, was man nimmt, muss man etwas geben.
    Unglücklich sah sie an sich hinunter. Sie hatte nichts zu geben. Sie trug doch bloß ein T-Shirt, eine kurze Hose und den Korb auf dem Rücken. Jetzt bemerkte sie die vielen Schrammen, die blauen Flecken und offenen Wunden, die sie bei ihrem Aufstiegdavongetragen hatte. Ihr Blut, ihre Lebensenergie, mit der sie es geschafft hatte, bis hier herauf zu gelangen, war vielleicht ihr einzig wertvoller Besitz. Sie beugte sich über das Nest, damit es dort hineintropfen konnte. Kleine rote Sprenkel netzten die weichen Federn. Da streifte der Talisman ihren Oberarm, und sofort verstand sie, dass er der Preis war, mit dem sie die Eier würde bezahlen müssen. Das war völlig ausgeschlossen. Wenn sie den geschnitzten Knochen hergab, würde sie ohne seinen magischen Schutz sein. Nie wieder würde sie etwas besitzen, das solche Zauberkräfte hatte, das Amulett war ihr viel wichtiger als diese Eier, von denen sie ja noch nicht einmal wusste, wozu sie gut sein sollten. Nein, sie konnte den Talisman nicht hergeben.
    Erschöpft schloss Nadia die Augen, während das Sonnenlicht, das durch die Wolken drang, seine Farbe veränderte. Für einen Augenblick sah sie wieder die Traumbilder, die Walimais ayahuasca -Trank bei Mokaritas Beisetzung hervorgerufen hatte, wieder war sie der Adler in einem weißen Himmel, fühlte sich schwerelos und mächtig. Von hoch oben blickte sie auf die Eier hinab, sah das gleiche Schillern wie in dieser Vision und hatte die gleiche Gewissheit: Diese Eier konnten die Nebelmenschen retten. Schweren Herzens schlug sie die Augen auf, streifte den Talisman ab und legte ihn in das Nest. Sie streckte die Hand nach einem der Eier aus, das etwas zur Seite kullerte und sich mühelos hochheben ließ. Auch die anderen beiden konnte sie sich einfach nehmen. Behutsam legte sie die drei Eier in ihren Korb und brach auf, um denselben Weg hinabzusteigen, den sie gekommen war. Noch drang das Licht der Sonne durch die Wolken; bestimmt würde sie für den Abstieg nicht so lange brauchen und vor Einbruch der Nacht unten sein, wie Walimai ihr aufgetragen hatte.

SECHZEHNTES KAPITEL
Das Wasser des Lebens
    Während Nadia den Tepui erklomm, stieg Alex durch einen schmalen Tunnel hinab in den Bauch der Erde, in eine abgeschottete, heiße, zuckende Dunkelheit wie in seinen schlimmsten Albträumen. Wenn er wenigstens eine Taschenlampe gehabt hätte … Er sah die Hand nicht vor Augen, musste manchmal auf allen vieren kriechen, stellenweise auf dem Bauch vorwärts robben. An diese undurchdringliche Finsternis gewöhnten sich seine Augen nicht. Mit einer Hand betastete er den Fels, versuchte, Richtung und Breite des Tunnels abzuschätzen, dann arbeitete er sich tiefer hinein, zwängte sich Zentimeter für Zentimeter voran. Der Tunnel schien immer schmaler zu werden, und wenn das so weiterging, würde er sich bald nicht mehr darin umdrehen können. Die Luft war drückend und stank nach Verwesung, so dass er kaum atmen konnte. Hier nutzten ihm die Fähigkeiten des schwarzen Jaguars rein gar nichts; er hätte ein anderes Totemtier gebraucht, einen Maulwurf vielleicht, eine Ratte oder einen Wurm.
    Oft hielt er inne und dachte daran umzukehren, bevor es endgültig zu spät wäre, aber die Erinnerung an seine Mutter trieb ihn weiter. Von Minute zu Minute nahm der Druck in seiner Brust zu, und seine Panik wuchs ins Uferlose. Da war wieder dieser dumpfe Herzschlag wie bei ihrer Wanderung mit Walimai durch das Labyrinth. Durch seinen Kopf jagten die Gedanken an immer neue Gefahren, die in der Finsternis lauerten; aber am allerschlimmsten war die Vorstellung, in den Eingeweiden dieses Berges lebendig begraben zu sein. Wie lange sollte das noch so weitergehen? Würde er vor dem Ende aufgeben müssen? Würde er noch Luft bekommen oder ersticken?
    Irgendwann fiel Alex erschöpft auf den Bauch und weinte. Jeder Muskel war verkrampft, das Blut hämmerte in seinen Schläfen, alles tat ihm weh; er konnte keinen klaren Gedanken fassen, hatte das Gefühl, sein Schädel werde zerspringen, wenn er nicht bald Luft bekam. Noch nie hatte er solche Angst gehabt, nicht einmalwährend der langen Nacht seiner Initiation bei den Indianern. Er versuchte sich an die Panik zu erinnern, damals als er am El Capitán abgerutscht war und nur noch an dem Seil gehangen hatte, aber das konnte man

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