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Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Die Abenteuer von Aguila und Jaguar

Titel: Die Abenteuer von Aguila und Jaguar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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nicht in der Gestalt des Adlers, sie hatte sich von allem Greifbaren gelöst, war nur noch Geist. Schwerelos ließ sie sich treiben. Die Welt lag weit hinter ihr, unten, war nichts als eine Illusion. Unmöglich zu sagen, wie lange sie so dahinschwebte, als plötzlich ein Loch in dem strahlenden Himmelsgewölbe aufriss. Sie schnellte wie ein Pfeil hindurch und hinein in einen leeren, tiefschwarzen Raum, so unendlich wie derHimmel in einer mondlosen Nacht. Hier löste sich selbst der Geist auf. Sie selbst war die Leere, hatte keine Wünsche, keine Erinnerung. Nichts musste sie fürchten. Sie war außerhalb der Zeit.
    Aber dort konnte Nadia nicht bleiben, denn hoch oben auf dem Tepui verlangte ihr Körper immer drängender nach ihr. Der Sauerstoff brachte ihrem Kopf den Sinn für die Wirklichkeit zurück, das Wasser gab ihr die nötige Energie, sich zu bewegen. Schließlich trat Nadias Geist den Rückweg an, schnellte erneut durch die Öffnung der Leere, erreichte das Himmelsgewölbe, ließ sich eine Weile durch die weiße Weite treiben und schlüpfte in die Gestalt des Adlers. Wie gern wäre sie für immer dort oben geblieben, den Wind in den Schwingen, aber mit einer letzten Kraftanstrengung kehrte sie in ihren Körper zurück. Sie fand sich auf dem Gipfel der Welt am Boden hockend und sah sich um.
    Sie saß auf der höchsten Felszinne einer Hochebene, um sie her nur Stille und Wolken. Zwar konnte sie nicht erkennen, wie hoch sie war oder wie weit sich diese Ebene erstreckte, aber verglichen mit diesem kolossalen Bergmassiv, musste das Tal im Innern des Tepuis winzig sein. Das Gelände war von tiefen Klüften durchzogen, manche davon nackter Fels, andere dicht bewachsen. Bestimmt würde es noch lange dauern, bis die Nahab mit ihren Stahlvögeln diesen Ort erforschten, denn selbst mit einem Hubschrauber war es Irrsinn, hier landen zu wollen, und in dem schroffen Gelände zu Fuß voranzukommen schien nahezu ausgeschlossen. Schon sank ihr der Mut, zwischen all den Felsspalten würde sie das Nest bis ans Ende ihrer Tage suchen können, aber dann erinnerte sie sich, dass Walimai ihr genau beschrieben hatte, wohin sie sich wenden sollte. Sie ruhte sich einen Moment aus und brach dann wieder auf, kletterte von Fels zu Fels, getrieben von einer unbekannten Kraft, einer Art instinktiven Gewissheit.
    Sie musste nicht weit gehen. Dort, in einer Nische zwischen großen Steinblöcken entdeckte sie das Nest, und darin lagen die drei Eier aus Kristall. Sie waren kleiner und schillernder als in ihrer Vision: wundervoll.
    ~
    Ganz vorsichtig, um ja nicht in eine der Felsspalten zu stürzen, wo sie sich alle Knochen gebrochen hätte, kroch Nadia auf das Nest zu. Ihre Finger schlossen sich um eines der ebenmäßig schimmernden Kristalleier, aber es ließ sich nicht hochheben. Verwundert griff sie nach einem anderen Ei. Auch das konnte sie nicht aus dem Nest nehmen, so wenig wie das dritte. Das war doch nicht möglich, dass diese Dinger, nicht größer als die Eier eines Tukans, so schwer waren. Was ging hier vor? Sie betrachtete sie genau, gab ihnen einen Schubs, aber das zeigte ihr nur, dass sie nicht an dem Nest festgeklebt oder sonst irgendwie verankert waren, sondern eher über dem weichen Bett aus Zweigen und Federn zu schweben schienen. Nadia setzte sich auf einen der Felsen und verstand die Welt nicht mehr, konnte nicht glauben, dass dieses ganze halsbrecherische Unternehmen völlig unnütz gewesen sein sollte. Sie war über alle ihre Grenzen gegangen, um wie eine Eidechse die steilen Bergwände hinaufzukriechen, und das alles nur, damit ihr am Ende die Kraft fehlte, um den Schatz, den sie gesucht hatte, auch nur einen Millimeter von der Stelle zu bewegen?
    Verstört saß Nadia lange grübelnd da, ohne der Lösung dieses Rätsels einen einzigen Schritt näher zu kommen. Plötzlich schoss ihr durch den Kopf, dass die Eier jemandem gehören mussten. Sicher, die Bestien konnten sie hierhin gelegt haben, aber vielleicht stammten sie auch von einem Vogel oder Reptil, womöglich von einem dieser Drachen. Aber dann konnte die Mutter doch jeden Augenblick auftauchen, und wenn die so nah bei ihrem Nest einen Eindringling fand, hätte sie allen Grund, zu einem wütenden Angriff überzugehen. Ich kann nicht hier bleiben, dachte Nadia, aber auf die Eier verzichten geht auch nicht. Walimai hatte doch klar gesagt, dass sie nicht mit leeren Händen umkehren durfte … Was hatte er noch gesagt? Dass sie vor Einbruch der Dunkelheit zurück sein

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