Die Abenteuer von Sherlock Holmes
einer langen Pause hin, in der er nur an seiner langen Pfeife gepafft und in das Feuer geblickt hatte, "kann man Sie wirklich nicht wegen Sensationslust tadeln, denn unter den Fällen, denen Sie freundlicherweise Ihr Interesse zuwandten, sind eine ganze Reihe Vorkommnisse, die vom gesetzlichen Standpunkt gar nicht Verbrechen genannt werden können. Die unbedeutende Angelegenheit, in der ich versuchte, dem König von Bohemia zu helfen, die bemerkenswerten Erlebnisse der Miss Mary Sutherland, das Problem des Mannes mit dem schiefen Mund und die Sache, die dem adligen Junggesellen widerfuhr, all das lag innerhalb der Gesetzesgrenzen. Aber ich fürchte, daß Sie, indem Sie die Sensationen vermieden, der Trivialität nahegekommen sind."
"Das mag das Ergebnis sein", antwortete ich. "Aber die Methoden, an die ich mich halte, sind neu und interessant."
"Pah, mein lieber Junge, was schert sich die Öffentlichkeit, die unachtsame breite Öffentlichkeit, die kaum einen Weber am Zahn oder einen Komponisten am Daumen erkennt, um die feineren Grade von Analyse und Deduktion! Aber wirklich: Wenn Sie trivial sind, so kann ich nicht Sie dafür verantwortlich machen, denn die Tage der großen Fälle sind dahin. Der Mensch, zumindest der verbrecherische Mensch, hat Unternehmungsgeist und Originalität zur Gänze
eingebüßt. Was meine eigene kleine Praxis angeht, so scheint sie zu einer Agentur für das Auffinden verlorener Bleistifte und für Ratschläge an junge Damen aus den Mädchenpensionaten zu
schrumpfen. Ich denke, ich habe die tiefste Stufe erreicht. Die Nachricht, die ich heute morgen erhielt, markiert, glaube ich, den Nullpunkt. Lesen Sie!"
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Er warf mir einen zerknitterten Brief zu. Das Schreiben war am vorangegangenen Abend am Montague Place abgeschickt worden und hatte folgenden Inhalt:
› Lieber Mr. Holmes, Mir liegt sehr daran, Ihren Rat in der Frage einzuholen, ob ich eine mir angebotene Stellung als Gouvernante antreten soll oder nicht. Ich werde morgen halb elf zu ihnen kommen, wenn Sie es nicht als Belästigung empfinden. Mit Hochachtung Violet Hunter. ‹
"Kennen Sie die junge Dame?" fragte ich.
"Nein."
"Es ist halb elf."
"Ja, und ich zweifle nicht, daß sie jetzt da klingelt."
"Vielleicht wird die Angelegenheit viel interessanter, als Sie denken.
Sie erinnern sich, die Affäre mit dem blauen Karfunkel sah anfangs nur nach einer Laune aus und entwickelte sich dann doch zu einer ernsthaften Untersuchung. Vielleicht ist es jetzt auch so."
"Nun, hoffen wir es! Aber unsere Zweifel werden bald behoben sein, denn hier, wenn ich nicht irre, ist schon die fragliche Person."
Indem wurde die Tür geöffnet und eine junge Dame betrat das Zimmer. Sie war einfach, aber geschmackvoll gekleidet, hatte ein offenes, lebhaftes Gesicht, das gefleckt war wie das Ei eines Regenpfeifers und wirkte in ihrem Auftreten entschieden wie alle Frauen, die ihren eigenen Weg durch die Welt gehen.
"Sie werden mir sicher die Belästigung verzeihen", sagte sie, als mein Gefährte sich zu ihrer Begrüßung erhob, "aber mir ist ein sehr seltsames Erlebnis begegnet und da ich keine Eltern und Verwandte besitze, die ich um Rat fragen könnte, dachte ich mir, Sie wären vielleicht freundlicherweise bereit, mir zu sagen, wie ich mich verhalten soll."
"Bitte, setzen Sie sich, Miss Hunter. Ich schätze mich glücklich, das in meinen Kräften stehende für Sie tun zu können."
Mir fiel auf, daß Holmes vom Auftreten und der Redeweise seiner neuen Klientin beeindruckt war. Er betrachtete sie forschend und sammelte sich dann, um ihrer Geschichte zuzuhören, indem er die Lider senkte und die Fingerspitzen gegeneinanderlegte.
"Ich war fünf Jahre lang Gouvernante in der Familie von Colonel Spence Munro", sagte sie. " Doch vor zwei Monaten folgte der Colonel einem Ruf nach Halifax in Nova Scotia und nahm seine Kinder mit
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nach Amerika, so daß ich ohne Anstellung dastand. Ich annoncierte und beantwortete Annoncen, aber ohne Erfolg. Die kleine Summe, die ich gespart hatte, ging dem Ende zu und ich wußte nicht mehr, was ich machen sollte. In West End gibt es eine bekannte Agentur zur Vermittlung von Gouvernanten, sie heißt Westaway. Dort sprach ich jede Woche einmal vor, um zu hören, ob ein Angebot eingegangen sei, das mir zusagte. Westaway ist der Name des Firmengründers, aber geleitet wird das Unternehmen von Miss Stoper. Sie sitzt in ihrem kleinen Büro, und die Damen, die eine Anstellung suchen, warten im Vorzimmer
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