Die Abenteuer von Sherlock Holmes
Besucher sah wie ein
durchschnittlicher englischer Handelsmann aus: feist, wichtigtuerisch, bedächtig. Er trug ziemlich ausgebeulte, graukarierte Hosen, einen nicht sehr sauberen schwarzen Gehrock, der nicht zugeknöpft war, und eine mausgraue Weste mit einer schweren Prinz-Albert-Kette aus Messing, an der als Schmuck ein viereckiges Metallstück hing. Ein abgegriffener Zylinder und ein verschossener brauner Mantel mit zerknittertem Samtkragen lagen neben ihm auf dem Stuhl. Alles in allem gab es nichts Bemerkenswertes an dem Mann, außer seinem brandroten Schopf und der Miene äußersten Verdrusses und
Mißbehagens. Sherlock Holmes erkannte mit schnellem Auge mein Unterfangen und lächelnd schüttelte er den Kopf, als er meine fragenden Blicke auffing. "Außer den offensichtlichen Tatsachen, daß er einige Zeit manuell gearbeitet hat, daß er schnupft, Freimaurer ist,
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sich in China aufgehalten hat und kürzlich ziemlich viel geschrieben haben muß, kann ich nichts ableiten."
Mr. Jabez Wilson fuhr aus dem Sessel, der Zeigefinger blieb auf der Zeitung, aber die Augen blickten nun auf meinen Gefährten.
"Wie, in Gottes Namen, können Sie das alles wissen, Mr. Holmes?"
fragte er. "Woher wissen Sie zum Beispiel, daß ich manuell gearbeitet habe? Das ist so wahr wie's Evangelium. Ich habe als
Schiffszimmermann angefangen."
"Ihre Hände verraten das, mein lieber Herr. Ihre Rechte ist etwas größer als die Linke. Sie haben damit gearbeitet, so sind die Muskeln stärker entwickelt."
"Gut. Aber was ist mit dem Tabakschnupfen und der Freimaurerei?"
"Ich möchte Ihre Intelligenz nicht beleidigen, indem ich Ihnen das erkläre. Zumal Sie entgegen den strengen Gesetzen Ihres Bundes die Nadel mit Bogen und Windrose offen tragen."
"Natürlich, das hab ich vergessen. Aber was ist mit dem Schreiben?"
"Was kann man schon schließen, wenn der rechte Ärmel fünf Zoll hoch glänzt und der linke einen abgeriebenen Fleck nahe am Ellbogen hat, an der Stelle, wo Sie den Arm auf das Pult aufstützen."
"Also gut, aber China?"
"Die Tätowierung, der Fisch über Ihrem linken Handgelenk, kann nur in China angefertigt worden sein. Ich habe mich ein wenig mit Tätowierungen beschäftigt und sogar zur Literatur des Gegenstandes beigetragen. Die Art, wie die Schuppen des Fisches mit einem Anflug von Rosa eingefärbt sind, ist ganz bezeichnend für China. Und wenn ich überdies die viereckige chinesische Münze an Ihrer Uhrkette sehe, wird die Sache noch einfacher."
Mr. Jabez Wilson lachte schwerfällig. "Bloß, da war ich nie", sagte er. "Erst dachte ich, Sie sind ein ganz Schlauer, aber jetzt sehe ich, daß gar nichts dahintersteckt."
"Ich fange an zu glauben, Watson", sagte Holmes, "daß ich mit meiner Erklärung einen Fehler gemacht habe. ›Omne ignotum pro magnifico‹. Sie verstehen und mein bißchen Ansehen geht zu Bruch, wenn ich so offen bin. - Finden Sie die Anzeige nicht, Mr. Wilson?"
"Doch, jetzt habe ich sie." Der Mann pflanzte einen dicken roten Finger mitten in die Kolumne. "Hier ist es, womit alles angefangen hat.
Lesen Sie selbst, Sir."
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Ich nahm die Zeitung und las das folgende:
"An die Liga der rothaarigen Männer:
Dem Vermächtnis des verstorbenen Ezekiah Hopkins aus Lebanon, Penn.; USA, entsprechend, ist jetzt wieder eine Stelle für ein Mitglied in der Liga frei; das Gehalt beträgt vier Pfund pro Woche bei nur leichtem Dienst. Alle rothaarigen Männer, die an Leib und Seele gesund und über einundzwanzig Jahre alt sind, können sich
bewerben. Erscheinen Sie persönlich am Montag um elf Uhr bei Duncan Ross im Büro der Liga, Pope's Court 7, Fleet Street."
"Was um alles in der Welt bedeutet das?" stieß ich nach zweimaligem Lesen der ungewöhnlichen Anzeige hervor.
Holmes kicherte und ringelte sich wie ein Wurm in seinem Sessel, wie immer, wenn er guter Laune war. "Nicht wahr, das geht ein bißchen vom ausgetretenen Weg ab?" sagte er. "Und nun, Mr. Wilson, fangen Sie an und erzählen Sie uns von sich, Ihren Lebensumständen und dem Einfluß, den die Annonce auf Ihr Schicksal genommen hat.
Sie, Doktor, sagen erst einmal, was das für eine Zeitung ist, und an welchem Tag sie erschienen ist."
"Es ist der ›Morning Chronicle‹ vom 27. April 1890. Gerade zwei Monate alt."
"Sehr gut. Und nun Sie, Mr. Wilson."
"Na, es ist genauso, wie ich es Ihnen erzählte, Mr. Sherlock Holmes", sagte Jabez Wilson und wischte sich die Stirn.
"Ich habe eine kleine Pfandleihe am Coburg Square nahe der
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