Die Abenteuer von Sherlock Holmes
heute in Gravesend auf die Post gebracht worden.
Nun, Mrs. St. Clair, die Wolken lichten sich, obwohl ich nicht zu sagen wage, daß die Gefahr vorüber ist."
"Aber er muß am Leben sein, Mr. Holmes!"
"Es sei denn, ein gerissener Fälscher will uns auf diese falsche Spur setzen. Der Ring beweist nichts. Den kann jemand Ihrem Mann abgenommen haben."
"Nein, nein, es ist, ist, ist seine Handschrift."
"Sehr gut. Dennoch kann der Brief am Montag geschrieben und gestern erst zur Post gebracht worden sein."
"Das wäre möglich."
"Wenn das stimmt, kann inzwischen viel geschehen sein."
"Ach, Mr. Holmes, entmutigen Sie mich nicht. Ich weiß, daß es gut um ihn steht. Zwischen uns besteht eine so feste Bindung, daß ich wüßte, wenn ihm Übles zugestoßen wäre. An dem Tag, als ich ihn zuletzt sah, hat er sich im Schlafzimmer geschnitten und obwohl ich im Wohnzimmer war, bin ich sofort nach oben gerannt, weil ich genau wußte, daß etwas geschehen war. Glauben Sie, ich reagierte auf so eine Kleinigkeit und wüßte nicht, wenn er tot ist?"
"Ich habe zuviel erlebt, um nicht auch erfahren zu haben, daß das Empfinden einer Frau wertvoller sein kann als die Schlüsse eines analytischen Denkers. Und mit diesem Brief haben Sie einen sehr starken Beweis, der Ihre Meinung erhärtet. Aber wenn Ihr Mann lebt und Briefe schreiben kann, aus welchem Grunde hält er sich von Ihnen fern?"
"Das kann ich mir nicht erklären. Es ist undenkbar."
-1 2 8 -
"Und er hat am Montag, ehe er wegging, nichts Besonderes gesagt?"
"Nein."
"Und Sie waren überrascht, als Sie ihn in der Swandam Lane sahen?"
"Sehr überrascht."
"Stand das Fenster offen?"
"Ja."
"Dann hätte er Sie rufen können?"
"Er hätte."
"Er stieß nur, wie ich es verstanden habe, einen unartikulierten Schrei aus?"
"Ja."
"Einen Hilfeschrei?"
"Ja. Er fuchtelte mit den Händen."
"Aber es hätte ein Überraschungsschrei sein können. Erstaunen über Ihr unerwartetes Auftauchen kann der Grund dafür gewesen sein, daß er die Hände hochwarf."
"Das ist möglich."
"Und Sie glaubten, er sei zurückgezerrt worden."
"Er verschwand so plötzlich."
"Er kann zurückgesprungen sein. Sie haben sonst niemanden im Zimmer gesehen?"
"Nein. Aber der schreckliche Mann hat gestanden, er sei in dem Zimmer gewesen und der Laskar stand unten an der Treppe."
"Ganz recht. Ihr Mann hatte, soweit Sie sehen konnten, seine gewöhnlichen Kleider an?"
"Aber ohne Kragen und Krawatte. Ich habe genau, seinen nackten Hals gesehen."
"Hat er früher schon von der Swandam Lane gesprochen?"
"Nie."
"Haben Sie je Anzeichen dafür entdeckt, daß er Opium nahm?"
"Nie."
"Ich danke Ihnen, Mrs. St. Clair. Das sind die grundsätzlichen Punkte, über die ich absolute Klarheit haben wollte. Wir werden ein
-1 2 9 -
bißchen zu Abend essen und uns dann zurückziehen. Wir haben einen sehr anstrengenden Tag vor uns."
Ein großes behagliches Zimmer mit einem Doppelbett stand zu unserer Verfügung und schnell lag ich zwischen den Laken. Ich war müde nach dieser Nacht voller Abenteuer. Sherlock Holmes dagegen konnte es, wenn er ein ungelöstes Problem mit sich herumtrug, tagelang und sogar für eine ganze Woche aushalten, ohne zu ruhen.
Er wandte das Problem hin und her, ordnete seine Tatsachen immer wieder neu und betrachtete sie von jedem Blickpunkt aus, bis er sie entweder ergründet hatte oder zu der Überzeugung gekommen war, daß sein Detailwissen nicht genügte. Bald war mir klar, daß er sich auf eine Nachtsitzung vorbereitete. Er legte Jacke und Weste ab, zog einen weiten blauen Schlafrock über, ging dann im Zimmer umher und sammelte Kissen von seinem Bett und Polster vom Sofa und von den Sesseln ein. Daraus baute er eine Art orientalischen Diwan, auf dem er sich mit gekreuzten Beinen niederließ, vor sich eine Unze Shag und eine Schachtel Zündhölzer. Im trüben Schein der Lampe sah ich ihn so sitzen, eine alte Bruyerepfeife zwischen den Zähnen, die Augen leer in eine Ecke der Zimmerdecke gerichtet, der blaue Rauch stieg auf. Er saß schweigend und regungslos, das Licht beschien seine scharfgeschnittenen, adlerhaften Züge. So saß er, als ich in Schlaf fiel und so saß er, als mich ein plötzlicher Ruf aus dem Schlaf riß und ich sah, daß die Sommersonne ins Zimmer schien. Er hatte die Pfeife noch im Mund, der Rauch kräuselte noch immer zur Decke, aber von dem Häufchen Shag, das ich in der Nacht gesehen hatte, war nichts mehr übrig.
"Wach, Watson?" fragte er.
"Ja."
"Lust auf eine
Weitere Kostenlose Bücher