Die Abenteuer von Sherlock Holmes
möglichst erbarmungswürdig wirkte, schminkte ich mir eine deftige Narbe und klebte eine Seite der Oberlippe mit Hilfe eines kleinen fleischfarbenen Pflasters hoch. Unter einer roten Perücke und in entsprechenden Kleidern bezog ich dann Posten im belebtesten Teil der City, vorgeblich als Verkäufer von Streichhölzern, in Wirklichkeit aber bettelte ich. Sieben Stunden lang ging ich dieser Beschäftigung nach und als ich abends nach Hause kam, stellte ich zu meiner Überraschung fest, daß ich nicht weniger als
sechsundzwanzig Shilling und vier Pence eingenommen hatte. Ich schrieb meine Artikel und dachte nur wenig an die Angelegenheit, bis ich einige Zeit später für eine Rechnung eines Freundes bürgte und mir damit ein Reskript über fünfundzwanzig Pfund einhandelte. Ich wußte mir keinen Rat, woher ich das Geld nehmen sollte, doch dann kam mir plötzlich die Idee. Ich ersuchte den Gläubiger um zwei Wochen Aufschub, bat den Herausgeber um Urlaub und verbrachte
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die Zeit in meiner Verkleidung bettelnd in der City. Innerhalb von zehn Tagen hatte ich das Geld beisammen und die Schuld bezahlt. Nun, Sie können sich vorstellen, wie schwer es mir fiel, mich wieder in die harte Arbeit für zwei Pfund die Woche zu schicken, da ich, doch wußte, daß ich an einem Tag soviel verdienen konnte, indem ich mir das Gesicht mit ein bißchen Farbe beschmierte, meine Mütze auf die Erde legte und regungslos dasaß. Es war ein langer Kampf zwischen meinem Stolz und diesem Gedanken, aber der Dollar siegte
schließlich. Ich gab den Journalismus auf und saß Tag um Tag in dem Winkel, den ich mir beim erstenmal ausgewählt hatte, erregte Mitleid durch mein scheußliches Gesicht und füllte mir die Taschen mit Kupfer. Nur ein Mann kannte mein Geheimnis. Es war der Wirt einer miesen Kneipe in der Swandam Lane, wo ich abzusteigen pflegte, jeden Morgen als schmutziger Bettler hervorging und mich am Abend in einen gut angezogenen Geschäftsmann zurückverwandelte. Dieser Bursche, ein Laskar, wurde von mir für das Zimmer reichlich bezahlt, so daß ich seiner sicher sein konnte. Sehr bald stellte ich fest, daß ich beachtliche Summen sparen konnte. Ich will nicht sagen, daß jeder Bettler in den Straßen Londons im Jahr siebenhundert Pfund verdienen kann - was weniger ist als meine durchschnittliche Einnahme, aber ich hatte ja außergewöhnliche Vorteile durch meine Schminkkunst und auch durch meine Schlagfertigkeit, die in der Praxis wuchs und mich zu einem Original der City machte. Jeden Tag ergoß sich ein Strom von Pennies und Silber über mich und das war ein sehr schlechter Tag, wenn ich nicht zwei Pfund bekam. Ich wurde reicher und damit auch ehrgeiziger, kaufte ein Haus auf dem Land und heiratete, als sich die Gelegenheit bot und niemand hatte eine Ahnung, womit ich mein Geld verdiente. Meine Frau wußte, daß ich in der City Geschäfte tätigte, aber nicht, worum es sich handelte. Am letzten Montag hatte ich gerade meine Arbeit beendet und zog mich in meinem Zimmer über der Opiumhöhle an, als ich durchs Fenster zu meinem Schrecken und Erstaunen sah, daß meine Frau in der Straße stand, die Augen fest auf mich gerichtet. Ich schrie vor Überraschung, warf die Arme hoch, um das Gesicht zu bedecken, stürzte zu meinem Vertrauten, dem Laskar, und bat ihn eindringlich, jeden am Heraufkommen zu hindern. Ich hörte unten ihre Stimme, aber ich wußte, daß man sie nicht herauflassen würde. Schnell warf ich meine Kleider ab, zog die Bettlersachen über, schminkte mich und setzte die Perücke auf. Sogar das Auge der Ehefrau konnte eine so vollständige Verkleidung nicht durchdringen. Aber dann fiel mir ein, daß man das Zimmer durchsuchen könnte und die Kleider mich verraten würden.
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Ich riß das Fenster auf, und durch die Hast öffnete sich wieder eine kleine Wunde, die ich mir am Morgen im Schlafzimmer zugezogen hatte. Dann packte ich den Rock. Er war schwer von den
Kupfermünzen, die ich zuvor aus dem ledernen Beutel, in dem ich die Einnahmen mit mir trage, in die Taschen gesteckt hatte. Ich schleuderte ihn hinaus und er verschwand in der Themse. Die anderen Kleidungsstücke wären gefolgt, aber in dem Moment hörte ich von der Treppe die Constabler und einige Minuten später sah ich mich anstatt als Mr. Neville St. Clair identifiziert als dessen Mörder verhaftet. Ein Umstand, das muß ich gestehen, der mich eher erleichterte. Ich weiß nicht, ob es noch etwas zu erklären gibt. Ich war entschlossen, so
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