Die Abrechnung: Ein Neonazi steigt aus
anderen Gefängnis machte Freddy auf ganz andere Art auf sich aufmerksam. Er reichte beim Gefängnisdirektor einen Vorschlag zur Bedienung der Wachtürme ein, ein Konzept, nach dem man die Wachtürme hydraulisch bedienen und die Häftlinge besser beobachten könnte. Der Gefängnisdirektor ordnete an, Frieder Meisel in Zukunft noch strenger zu überwachen.
Später wurde Freddy nach Brandenburg verlegt, vielleicht der härteste Knast in der DDR. Dort lebte er ausschließlich unter Mördern und anderen Schwerverbrechern. Während seiner vierjährigen Haftzeit in Brandenburg lernte er mehrere alte Naziverbrecher kennen, zum Beispiel den Henker von Oradour und den ehemaligen Gestapochef von Dresden, der in der Werkzeugausgabe beschäftigt war. Der Gestapochef war lange Jahre in der DDR unerkannt geblieben und hatte es in der SED sogar zu einer höheren Parteifunktion gebracht.
Der 20. April war in diesem Knast immer ein ganz besonderer Tag. An diesem Tag, dem Geburtstag Adolf Hitlers, malten die alten Nazis Hakenkreuze auf Klopapierstreifen, die sie sich dann als Armbinden überstreiften. Einige Strafgefangene saßen in Rollstühlen, auch sie erschienen zu einer makabren Zeremonie. Viele Naziverbrecher wußten gar nicht mehr, wie lange sie schon in diesem Knast saßen.
Kurz nach dem Mauerfall sah ich Freddy riesig groß in einer Illustrierten abgebildet. Er hielt ein Schild »Gefangener des Sozialismus« in der Hand. Ich freute mich wie ein Kind, meinen alten Freund wiederzusehen.
Ein paar Tage später wurde Freddy aus dem Gefängnis entlassen und kam sofort in unser Haus in der Weitlingstraße 122 in Lichtenberg. Ein westdeutscher Skin wollte ihn nicht hereinlassen, er wußte nicht, wer da vor ihm stand. Freddy verpaßte ihm einen Schlag und schob ihn zurück. Dann lief er die Treppe hoch und schrie: »Eh, Hasselbach, wo steckst du denn?« Wir begrüßten uns und gingen sofort in eine Kneipe, um uns vollaufen zu lassen. Nach zwei Tagen hatte man den Eindruck, daß Freddy nie woanders als in unserem Haus gewohnt habe.
Nach ein paar Tagen besuchte Freddy seine Mutter, die er während der letzten vier Jahre nicht mehr gesehen hatte. Wegen seiner vielen Tätowierungen erkannte sie ihn kaum mehr wieder.
Frau Meisel gehörte einem Komitee an, das sich vor allem für die politischen Gefangenen in der DDR eingesetzt hatte. Sie war dort sehr engagiert. Sie starb eine Woche nach der Entlassung ihres Sohnes aus dem Gefängnis völlig unerwartet. Seinen Vater hatte Freddy nie gekannt, und auch andere Familienangehörige gab es nicht.
Im Sommer 1990 mußte Freddy für zwei Wochen ins Krankenhaus. An den Grund dafür kann ich mich heute nicht mehr erinnern. Der Wiener Neonazi Gottfried Küssel und ich besuchten ihn dort. Als wir sein Krankenzimmer betraten, war eine seiner alten Freundinnen gerade dabei, ihn oral zu befriedigen. Unser Kommen schien die beiden in keiner Weise zu stören. Küssel lief völlig verstört zum Fenster und schaute angestrengt auf die Straße. Das Mädchen setzte kurz ab und sah mich an: »Tag, Hasselbach.« Dann drehte sie sich sofort wieder um und machte weiter. Eine Krankenschwester verirrte sich ins Zimmer. Freddy brüllte sofort los: »Tür zu und raus!« Die verängstigte Krankenschwester gehorchte prompt. Nach ein paar Minuten fragte ich zögernd: »Könnt ihr nicht mal langsam … Ich meine…«
»Wir wollen hier mal nichts überstürzen«, entgegnete Freddy bestimmt, während Küssel immer noch verlegen auf die Straße blickte.
Zuletzt, vor vielleicht einem halben Jahr, sah ich Freddy in einer Kneipe. Er sagte zu mir: »Ich habe mich jetzt in Hoyerswerda angemeldet, das ist wesentlich besser dort.«
»Wieso?« fragte ich erstaunt.
»Melde dich doch auch dort an, dann kommen wir das nächste Mal nämlich nach Bautzen. Dort geht es uns gut, Hasselbach!«
»Ich habe eigentlich nicht vor, noch mal in den Knast zu gehen.«
»Ach komm, Hasselbach, wir gehen alle wieder in den Knast.«
Das ist die Geschichte meines ältesten Freundes Frieder Meisel, genannt Freddy. Den hast Du nicht gekannt, Hans. Und auch meine anderen Freunde nicht.
Mike Prötzke, genannt »Göring«
Ich ging nach meiner Scheidung jeden Abend in die Lichtenberger Gaststätte FAS, Die meisten Ostberliner Skinheads gingen dort ein und aus, und ich lernte viele jener Leute kennen, die zur rechten Szene zählten. Einer von ihnen war der damals siebzehnjährige Mike Prötzke, den seine Freunde Göring nannten, so fett und
Weitere Kostenlose Bücher