Die Abrechnung: Ein Neonazi steigt aus
Tragödien, die einem Mut machen, die einem Ratschläge und Kraft mit auf den Weg geben. Solche Veranstaltungen und Treffen lassen mich andere fast vergessen, wo ich nur unter Polizeischutz rein und raus gekommen bin. Im Ostseebad Ahlbeck gab es so eine Lesung. Eine vollbesetzte Kirche, mit mehr als dreihundert Teilnehmern, darunter zehn Neonazis. Diese zehn Figuren haben es geschafft, die Veranstaltung so zu kippen, daß die Leute, die interessiert waren, keine Fragen mehr gestellt haben und ich die Veranstaltung irgendwann abgebrochen habe.
Meine Vergangenheit verfolgt mich bis heute. Beruf ExNeonazi - das ist noch immer die treffendste Formulierung, wenn ich auf meine Vergangenheit angesprochen werde. Es ist mir trotz aller Versuche letztlich nicht gelungen, aus diesem Schatten zu treten. Wie mächtig und präsent die Szene ist, zeigt auch die Entwicklung der letzten Monate. Brandanschläge auf Synagogen und Ausländerheime, Morde an Obdachlosen und Ausländern haben die rechte Szene wieder ins Gespräch gebracht. Hinzu kommen geradezu unerträgliche Aussagen von führenden Politikern, beispielsweise der von Berlin nach Brandenburg abgeschobene General Jörg Schönbohm, oder Hessens Ministerpräsident Roland Koch. Beide haben sich mit Äußerungen hervorgetan, die die Rechten gefreut haben dürften. Die CDU hat bereits heute angekündigt, daß beim nächsten Bundestagswahlkampf eines der zentralen Themen die Ausländerfrage sein wird. Das Boot ist anscheinend gerade mal wieder voll, und wann immer es paßt, wird dies thematisiert.
Die Szene scheint aktiver denn je zu sein. Eine derartige Präsenz haben die braunen Truppen seit den Morden von Solingen 1993 nicht mehr gehabt. Eine Organisation, deren Name in der letzten Zeit immer wieder auftaucht, ist die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD). Eine Partei, die zu meiner Zeit noch als Altherrenverein verlacht wurde, sich mittlerweile aber zu einer ernsthaften Gefahr entwickelt hat.
Ich werde mich auf den nächsten Seiten mit dieser Partei, mit dem Fall Kay Diesner und einem Projekt beschäftigen, das es sich zum Ziel gesetzt hat, Leute zum Aussteigen aus der Szene zu motivieren. Auch über mein Leben während der letzten Jahre, die fast ausschließlich vom Neonazismus geprägt waren, werde ich berichten.
Der Fall Kay Diesner
Im Oktober 2000 sitze ich in einem Hotelzimmer in Cork/ Irland, um mit etwas Abstand zu Deutschland an diesem Text zu arbeiten. Ich bin froh, mal wieder raus aus Deutschland zu sein, lese lediglich von Zeit zu Zeit einige Tageszeitungen und versuche zu verstehen, was in der Welt passiert. Der Nahe Osten dominiert die Berichterstattung der Medien. Ein Pulverfaß kurz vor der Explosion. Beim Weiterblättern fällt mir eine andere Meldung ins Auge. Der Bundesinnenminister Otto Schily will noch in diesem Jahr einen Verbotsantrag gegen die NPD beim Bundesverfassungsgericht einreichen. Schaut man sich die Entwicklung der NPD in den neunziger Jahren genauer an, kann man viel über die Entwicklung der rechtsextremen Szene innerhalb der letzten sieben Jahre erfahren.
Nach den Partei-und Organisationsverboten Anfang der neunziger Jahre lag die rechte Szene so gut wie am Boden. Die wichtigsten Führungspersönlichkeiten waren, wie Michael Kühnen, tot oder saßen, wie Christian Worch, Arnulf Priem, Gerhard Lauck, Gottfried Küssel und Günther Reinthaler, im Gefängnis. Gerade die Österreicher unter den Führungskadern der deutschen Neonaziszene verbüßten langjährige Haftstrafen. Reinthaler etwa vier Jahre, Küssel gar elf Jahre. Beide sind mittlerweile wieder frei und unterliegen strengen Kontrollen der österreichischen Behörden, von daher sind neue Aktivitäten dieser beiden prominenten Neonazis derzeit ausgeschlossen. Christian Worch hingegen bewegt sich nach der Verbüßung einer zweijährigen Freiheitsstrafe wieder ganz offen in der Szene. Erst kürzlich durfte er dem Magazin Spiegel-Reporter auf acht langen Seiten erklären, warum er ein Nazi ist. Er ist seit mehr als zwei Jahrzehnten aktiv, liebt amerikanische Actionfilme und Steakhäuser, ißt Döner und ruft regelmäßig zu Gewaltlosigkeit auf. Worch ist das, was man mit gutem Gewissen einen geistigen Brandstifter nennen kann. Auch oder gerade weil er in der Lage ist, »Haß in juristisch nicht angreifbare Worte zu kleiden«, wie der Spiegel schreibt. Während das gemeine Fußvolk auf der Straße die »Drecksarbeit« erledigt, sitzt er daheim, arbeitet an einer Rede oder
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