Die Abrechnung: Ein Neonazi steigt aus
Ich hatte Glück, daß bei all den Gewaltaktionen, die ich leitete, niemand so schwer verletzt wurde, daß er bleibende Schäden davontrug. Ich habe diese Gewalttaten immer damit gerechtfertigt, daß ich selbst zu lange unschuldig im Gefängnis gesessen habe und die Linken ebenfalls gewaltbereit sind.
Meistens schrie ich laut, bevor ich auf jemanden einschlug. Diese Schreie nahmen mir die Angst. Das machte es möglich, auf immer leichtere Weise gewalttätig zu sein. Ich mußte anderen »Vorbild sein«, durfte mir keine Blöße geben. Irgendwann gehörte diese Gewalt zu meinem Alltag, sie stand mir ins Gesicht geschrieben, sie prägte mein Auftreten, und sie verschwindet nur langsam.
Manchmal merkte ich, daß ich regelrecht Spaß daran hatte, andere zu überfallen und zu prügeln. Dieses Gefühl war bei vielen von uns vorhanden, bei einigen so extrem, daß sie leuchtende Augen bekamen, wenn sie auf andere einschlugen. Manch einer, zum Beispiel mein »Kamerad« Stinki, ist wahrscheinlich nichts anderes als ein anarchistischer Sadist, der sich den Nazis zugesellt hat.
Hätte ich von Anfang an in der Bundesrepublik gelebt, vielleicht wäre ich zur RAF oder in die linke gewaltbereite Szene gegangen. Fehlende Liebe und fehlende Anerkennung führen zu Frustrationen, die sich steigern können bis zum blinden Haß.
Lieber Hans!
Nun, wo ich am Ende meines Berichtes angelangt bin, will ich Dich, meinen Vater, noch einmal selber ansprechen. Natürlich habe ich nicht vergessen, daß es mein Wunsch ist, vor allem mit Dir zu reden.
Wenn meine Mutter nicht trotz allem immer zu mir gehalten hätte, würde ich diesen Brief nicht geschrieben haben. Sie bewahrte mich am Ende davor, Terrorist zu werden und im Untergrund zu verschwinden. Sehr wichtig sind für mich auch meine neuen Freunde. Sie helfen mir, mich in dieser anderen Zeit, in der wir jetzt leben, zurechtzufinden. Sie akzeptieren mich so, wie ich bin, und nur deshalb kann ich mich ändern. Ich muß mich einer Zeit anpassen, in der nur Geld und Erfolg zählen. Der Sinn des einzelnen für alle anderen ist kaum mehr gefragt, mit ihm kann aber auch nicht, wie damals in der DDR, in so schändlicher Weise Mißbrauch getrieben werden. Jeder ist für sich selbst verantwortlich, niemand nimmt ihm das Denken ab. Nationalsozialistische Gedanken und Organisationsformen, die den einzelnen unterordnen und ihm die Chance zu seiner Entfaltung als Mensch nehmen, sind unbrauchbar für die Zukunft. Da sind wir uns gewiß einig.
Ich muß mit Dir über meine und Deine Vergangenheit sprechen, darüber, wieviel unmenschlicher dieser autoritäre Staat DDR gegenüber dem Land war, in dem wir jetzt leben, in wie vielen Bereichen das Leben in der DDR aber auch menschlicher war, nicht nur in dem, was stets und ständig verkündet wurde.
Ich weiß nicht, welchen Eindruck Du jetzt von mir hast. Das wußte ich aber auch vorher nie. Immer wieder habe ich versucht, Deine Anerkennung zu bekommen, als ich merkte, wie zwecklos das war, fing ich an, Dich anzugreifen. Dafür möchte ich mich bei Dir entschuldigen.
Als ich vor zwei Monaten mit dem Schreiben begann, war ich an den Prenzlauer Berg gezogen, nun habe ich mich in eine Engländerin verliebt und lebe für eine Zeit in London. Winfried lebt jetzt in Italien, ich war öfters bei ihm. Ich lerne nebenbei Englisch und bin Ausländer in einer multikulturellen Gesellschaft. Manchmal kommt mir meine Neonazizeit nur noch wie ein böser Traum vor. Es ist ein gutes Gefühl, durch die Straßen einer Stadt gehen zu können und sich nicht dauernd umdrehen zu müssen, wer hinter einem geht. Jetzt, wo ich selbst Ausländer bin, begreife ich den Schwachsinn, Ausländer diskriminieren zu wollen. Vielleicht wäre es witzig, Neonazis als Missionare nach Afrika zu schicken. In der DDR waren Ausländer bewußt isoliert, und die Jugendlichen hatten kaum Kontakt zu ihnen, höchstens wenn es um die Mädchen ging, denn Ausländer sind nicht selten echte Konkurrenten für so manchen verpickelten Bierbauch von zwanzig Jahren. Viele junge Leute hatten Vorbehalte aus Unwissenheit, das hat die menschenverachtende Ideologie der Nazis geschickt auszunutzen verstanden.
Früher hatte ich einen Traum, ich wollte Journalist werden, so wie Du, ich wollte schreiben für die Wahrheit und die Gerechtigkeit. Meine Mutter sagte manchmal, ich wäre Dir so ähnlich, und ich finde es interessant, daß Du in meinem Alter ein Buch geschrieben hast. Ich denke, es gibt viele Parallelen zwischen
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