Die Abrechnung: Ein Neonazi steigt aus
uns, die wir beide nur noch nicht kennen.
Heute will ich nicht mehr Journalist werden, ich habe fast nur solche getroffen, denen es allein um ihre Exklusivstory geht. Das allein reicht nicht, weder für die Leute, über die sie schreiben, noch für die Leser. Ich kann auch nicht anderen Leuten Freundschaft heucheln, und an sensationellen Berichten über mich bin ich nicht mehr interessiert. Viele kleine Nazis sind scharf darauf, in die Medien zu kommen, und manch ein Leser hat sein festgefügtes Bild, das er immer wieder bestätigt haben will. Eine gewisse Art von Journalismus und Neonazis bedingen einander, sie brauchen sich gegenseitig. Für den Journalisten ist jede Story Geld, für den Nazi ist sie Werbung.
Sicher wird mich meine Neonazivergangenheit immer mal wieder einholen, obwohl ich wirklich nicht mehr darüber sprechen mag. Ich bin ausgestiegen und werde alle Gründe dafür nicht nennen können, ich kenne sie selbst nicht. Ich spürte, das, was ich da predigte, war falsch, gefährlich und lächerlich in dieser so weit zusammengewachsenen Welt, in der allein aus technischen und wirtschaftlichen Gründen ein Land nicht mehr ohne das andere auskommt.
Ich habe Dir die entscheidenden Momente meines Lebens geschildert. Ich interessiere mich auch für Dein Leben. So könnten wir’s beide besser meistern. Neonazismus löst keine Probleme, er vertieft sie nur. Sich irgendeinem Verein anzuschließen und zu glauben, so könne es nun gehen, ist zu einfach. Man ist allein verantwortlich für sich, und niemand nimmt einem diese Verantwortung ab. Hoffnung kommt nicht von allein, man muß sie sich selbst erarbeiten. Mein Leben kann jetzt nur besser werden. Jeder Mensch kann sich zu jeder Zeit verändern. Du und ich. Wir glaubten, uns hassen zu müssen, aber vielleicht hätten wir nur ohne Vorbehalte und ohne Absichten miteinander reden sollen. Das hätte vielleicht schon etwas genutzt.
Ich würde mich jedenfalls wirklich freuen, wenn ich Dich mal zum Kaffee einladen dürfte.
Ingo
Nach der »Abrechnung«
Sieben Jahre sind vergangen seit »Die Abrechnung« beim Berliner Aufbau-Verlag erschienen ist. Das Buch ist inzwischen in fast alle Sprachen übersetzt worden und hat immer dort, wo es erschien, für große Aufmerksamkeit gesorgt. Es hat dem Leser einen tiefen Einblick in eine Szene vermittelt, die bis heute für den Tod von unzähligen Menschen verantwortlich ist. Alles, was bis dahin bekannt war, wußte man aus der Presse, aus mehr oder minder gut recherchierten Zeitungsartikeln. Einen derartigen Insiderbericht jedoch hatte niemals vorher gegeben.
Diese Erweiterung wird keine neuen Insiderinformationen mehr liefern können, aber ich will versuchen zu erzählen, wie schwierig mein Leben nach dem Ausstieg verlief, und welche persönlichen Veränderungen es in ihm gegeben hat. Die »Abrechnung« war neben den Informationen über die rechtsextremistische Szene eben auch ein sehr persönliches Buch, Die Suche nach meinem Vater, die Versuche, ohne ihn leben zu können, haben mein Leben lange Zeit bestimmt.
Daß nach der »Abrechnung« nichts mehr so bleibt wie vorher, war mir ehrlich gesagt gar nicht so klar. Ich dachte, jetzt habe ich dieses Kapitel abgeschlossen und kann mich locker zurücklehnen. Das klingt naiv, wenn man dem Spiegel glauben darf, bin ich es auch. Ich würde über fünf wichtige Voraussetzungen verfügen, so das Magazin 1996: »Er ist blond, blauäugig, naiv, eitel und vor allem war er einmal ein Neonazi.« Ich wollte mich nie aus meiner Verantwortung stehlen, aber daß ich so in die Pflicht genommen werde, habe ich nun wirklich nicht gedacht. Rückblickend denke ich heute noch manchmal, daß mich nach 1993 irgendwann mal eine Lawine überrollt hat. Es ist heute schwer für mich zu sagen wie, was, wann passierte.
Ich habe in dieser Zeit viele Lesungen und Veranstaltungen in ganz Deutschland gemacht. Einige sind mir dabei in besonderer Erinnerung geblieben. So zum Beispiel die Lesung in Stuttgart, mit einem sehr engagierten Buchhändler, mit dem ich auch noch lange Zeit nach der Veranstaltung Kontakt hatte. Oder die Diskussion im WDR mit dem mittlerweile verstorbenen Ignatz Bubis. Ich kann wirklich nicht behaupten, viele derartig beeindruckende Persönlichkeiten wie Bubis getroffen zu haben. Seine Art, wie er erzählte und mit seiner eigenen Geschichte umging, wirkte sehr stark auf mich. Es sind merkwürdigerweise immer die am meisten verletzten Menschen, die mit den größten persönlichen
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